Forum für Geschichte

Normale Version: Was ist wirklich neu?
Sie sehen gerade eine vereinfachte Darstellung unserer Inhalte. Normale Ansicht mit richtiger Formatierung.
In der Geschichtsforschung sind unsere feschen Universitätspfründnerinnen und Universitätspfründner (offiziell als Universitätsleute, Professorinnen und Professoren etc. tituliert) nur zu gerne bereit, sich als die Erstentdeckerinnen und Erstentdecker von etwas zu präsentierten. Pech für sie, dass ich in den letzten Jahren immer wieder feststellen durfte, dass mir die vieler dieser Erstentdeckung bereits längst bekannt war. Sei es, weil ich ältere Arbeiten gelesen habe, wo das bereits zur Debatte stand oder wenigstens zwischen den Zeilen zu erkennen war. (Und dies keineswegs nur in unbekannten "Nischenbüchern").

Bei einigen älteren Romanen, die vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, ist mir aufgefallen, dass manche Neuentdeckung des 21. Jahrhunderts der Autorin oder dem Autor bereits bekannt gewesen sein muss. In alten Roman stellte ich fest, dass etwas, das mir im Zusammenhang mit einem wichtigen historischen Ereignis, das angeblich inzwischen vollständig erforscht sein soll, trotzdem merkwürdig vorkommt, auch bereits dem Autor merkwürdig vorgekommen sein dürfte. Jedenfalls hielt er es für notwendig, sich in seinem Roman dafür eine Erklärung einfallen zu lassen. Allerdings hat er seinen Roman bereits vor ca. 200 Jahren geschrieben.

Doch auch bei alten, oft durchaus fehlerhafte Geschichtsinterpretation, welche die Pfründnerschaft durch die neue und einzig richtige ersetzt hat, habe ich oft den Eindruck, dass hier in Wirklichkeit eine unrichtige Geschichte beziehungsweise Legende durch eine neue unrichtige Geschichte oder Legende ersetzt wurde.

Auch wenn ich historische Romane lese, habe ich oft den Eindruck, dass Autorinnen und Autoren mit Absicht verheimlichen, dass sie auch ältere Bücher zu ihrem Themen gelesen haben dürften und stattdessen so tun, als wären sie die ersten gewesen, welche das Thema oder den Stoff entdeckt hätten. Ausnahme ist natürlich Shakespeare, der ist halt zu bekannt.

Verdächtig ist hier besonders, dass diese Autorinnen und Autoren meistens zwar ihre politische Korrektness hervorheben und den Zeitgeist beachten, aber ansonsten selten wirklich andere Akzente setzen. Beispiel: Der historische Bösewicht ist noch immer dieselbe Figur, die schon vor mehr 100 Jahren auf diese Rolle festgelegt war, der gute Herrscher ist noch immer der, der es damals zu sein hatte. (Das ist nur dann anders, wenn es sich um historische Figuren handelt, die für das aktuelle EU-Regime durch Verunglimpfung oder Glorifizierung vereinnahmt wurden.) Lediglich die historisch belegte Ehefrau darf eine etwas größere Rolle spielen. Dazu kommen dann ein fiktiver Held mit allen Werten, die heute in sind, und einer tragischen Vorgeschichte und eine starke fiktive Ausnahmefrau, die gewöhnlich Heilerin, Hebamme oder Seherin ist. (Wobei diese Frauenpower gewöhnlich im Verlauf der Romanhandlung wieder zurückgenommen wird, sei es durch "Bestrafung" und "Unterwerfung" oder dadurch dass sie nur der Ausnahmefrau vorbehalten bleibt, die aber zuletzt als Mistress Right ebenfalls unter "männliche" Aufsicht kommt.)

Kaum gibt es eine Autorin oder ein Autor im 21. Jahrhundert, die oder der zugibt, dass er oder sie einen Stoff gestaltet hat, zudem es bereits ältere Bücher gibt. (Shakespeare ist natürlich da eine Ausnahme, der ist vermutlich zu bekannt, um ihn "verschwinden" zu lassen.) Stets wird nur die eigene Recherche von zeitgenössischen Quellen als Vorarbeit für den Roman behauptet oder eine Literaturliste mit den aktuellen wissenschaftlichen Arbeiten am Schluss noch angehängt. (Da ich noch immer viele wissenschaftliche Arbeiten lese, ist es oft der Fall, dass ich die Bücher in diesen Literaturlisten ohnehin selbst kenne, und da ist mir schon einige Male aufgefallen, dass die Autorin oder der Autor diese gar nicht gelesen haben dürften. Natürlich muss ein historischer Roman nicht alles so wiedergeben, wie es in der Sekundärliteratur dargestellt ist, aber Handlungsaspekte, an denen erkennbar ist, dass diese Sekundärliteratur nicht nur gelesen, sondern auch, zumindest als Anregung, verwendet wurde, sollte es doch geben.

Recht interessant ist übrigens in diesem Kontext der erst vor wenigen Jahren in einer neuen Übersetzung auch am deutschen Buchmarkt nun mehr präsente Kriminalroman "Alibi für einen König", eines der letzten Bücher der englischen Schriftstellerin Josephine Tey (gest. 1952). (Im Original hat das Buch den zutreffenderen und symbolisch mehrdeutigen Titel: "The Daughter of Time". Dass es bereits wesentlich früher am deutschsprachigen Buchmarkt unter dem Titel: "Richard der Verleumdete" erschienen, dürfte nicht einmal den Herausgebern der neuen Übersetzung bekannt sein.)

Diese Buch, das für seine Entstehungszeit (1951) eindeutig als innovativ einzustufen ist, führt sehr plastisch vor Augen, wie fragwürdig selbst die wissenschaftliche Geschichtsforschung schon immer war und daran hat sich bis heute nichts geändert. (Der "Silberstreif", der für nur wenige Jahre in den 1990er-Jahren in Ansätzen zu beobachten war, hat sich längst wieder zur Gänze verflüchtig und war nur ein kurzes Zwischenspiel.)
(Selbst wenn die Leserin oder der Leser Richard weiterhin für den Schurken hält oder zumindest die Entlarvung des "tatsächlichen" Täters nicht überzeugt, bleibt noch immer die kritische Auseinandersetzung mit dem Prozess der Geschichtsbildung über Jahrhunderte an sich, die an Schlüssigkeit und Aktualität nichts verloren hat. Letztlich ist der Fall um Richard hier nur das Beispiel, an dem dies aufgezeigt wird: mit der Hinterfragung der Geschichtsquellen, dem Umgang der als Historikerin oder Historiker tätigen Personen mit der Geschichtsforschung und Deutung, dem absichtliche Unterschlagen oder Ignorieren von Forschungsergebnissen, die nicht gewünscht sind (der als Detektiv tätige Historiker fällt im Roman aus allen Wolken, als er plötzlich entdecken darf, dass er gar nicht der erste ist, der Richard für unschuldig hält) und Ähnliches.
Referenz-URLs