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Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Druckversion

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Seiten: 1 2


Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Suebe - 02.02.2013 17:02

Zitat:Das Kapital, neu gelesen
Erstens kommt es anders

[Bild: 3-format1.JPG]

Zitat:Karl Marx schätzte Balzac. Besonders gut gefiel ihm die Geschichte mit dem Titel „Das unbekannte Meisterwerk“. Sie handelt von einem Maler, der die schlechthin vollkommene Frauengestalt auf die Leinwand bannen will. Viele Jahre arbeitet er an dem Werk. Und als er es erstmals enthüllt, finden die Betrachter eine Vielzahl von schillernden Farbschichten, aber keine Frau. Nur an einer Unterkante erkennt man die Vollendung eines weiblichen Fußes. Marx-Forscher meinen, dass der Autor des „Kapital“ sich selbst in jenem Balzac’schen Maler wiederfand.

Denn die gängige Vorstellung von einem genialen Kopf mit abgeschlossenem Hauptwerk trifft auf Marx und sein 1867 erschienenes „Kapital“ nicht zu.

./.

In der MEGA, die eine Umsetzung der „Formulierungspartituren“, der schwer entzifferbaren Manuskripte mit vielen Korrekturen darstellt, wird ein Karl Marx sichtbar, der sich selbst infrage stellt. Diese „Entsiegelung“ war die Nachwelt ihm schuldig, zu ihrem eigenen Vorteil. Denn der selbstkritische Marx ist, wie Kurz launig formulierte, immer noch ein MEGA-Star, den Deutschland jetzt nicht mehr zu suchen braucht.

zum weiterlesen
http://www.tagesspiegel.de/kultur/das-kapital-neu-gelesen-erstens-kommt-es-anders/7723232.html


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - 913Chris - 12.02.2013 12:22

Find ich höchst interessant. Ist in diversen Diskussionen auch schon deutlich geworden, dass Marx was anderes wollte als der Marxismus draus machte. Nun wissen wir: Auch Engels war dank seiner teil eigenmächtigen und eigenwilligen Umsetzung des Marx´schen Notizensammelsuriums schuld dran, dass hinten was anderes rauskam als Marx vorn reingesteckt (-gedacht) hatte...

VG
Christian


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Arkona - 12.02.2013 12:39

(12.02.2013 12:22)913Chris schrieb:  Find ich höchst interessant. Ist in diversen Diskussionen auch schon deutlich geworden, dass Marx was anderes wollte als der Marxismus draus machte. Nun wissen wir: Auch Engels war dank seiner teil eigenmächtigen und eigenwilligen Umsetzung des Marx´schen Notizensammelsuriums schuld dran, dass hinten was anderes rauskam als Marx vorn reingesteckt (-gedacht) hatte...
Wobei ich persönlich eigentlich Engels für den eigentlich fähigeren Kopf der beiden halte, er war der Historiker und Naturwissenschaftler in dem Gespann. Marx war zeitlebens ein cholerischer permanent abgebrannter Exzentriker, sein Kumpel Engels musste ihn und seine Familie mit durchfüttern. Es ist unmöglich, das Kapital einfach mal zu lesen - für mich als Student in der DDR waren die Bücher wenigstens noch als Ersatz für ein abgebrochenes Sofa-Bein tauglich.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - 913Chris - 12.02.2013 14:07

(12.02.2013 12:39)Arkona schrieb:  Marx war zeitlebens ein cholerischer permanent abgebrannter Exzentriker

Das war Diogenes auch... Smile

VG
Christian


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Butterfly - 12.02.2013 17:08

(12.02.2013 12:22)913Chris schrieb:  Ist in diversen Diskussionen auch schon deutlich geworden, dass Marx was anderes wollte als der Marxismus draus machte.
Ich bezweifle, dass man das Engels in die Schuhe schieben kann.
Das "Manifest der Kommunistischen Partei" zumindest haben beide verfasst.
Zu der Zeit - 1847/48 eine bedeutende Schrift.

Welche Menschengruppe oder welcher Einzelne hat DEN Marxismus, so wie wir ihn kennen, draus gemacht? Über welchen Zeitraum hat sich das erstreckt?


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Arkona - 12.02.2013 17:55

Verbockt hat das Lenin, der wie sein Nachfolger eher dem asiatischen Despotismus als der reinen Lehre von Marx und Engels huldigte. Später setzte man es in Russland ja auch in die Tat um, was die ganze Theorie vermutlich für alle Zeiten diskreditierte und damit wiederum die Sozialdemokratie in Westeuropa förderte.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Butterfly - 12.02.2013 19:06

Sehe ich ähnlich. Beginnend mit den Bolschewiki, Lenin und dem Beginn des WK1.
Die Asiaten haben es dann auf ihre Art noch mehr verzerrt.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Suebe - 12.02.2013 21:15

(12.02.2013 19:06)Butterfly schrieb:  Sehe ich ähnlich. Beginnend mit den Bolschewiki, Lenin und dem Beginn des WK1.
Die Asiaten haben es dann auf ihre Art noch mehr verzerrt.


Ihr habt sehr recht.
Germanozentrisch:
Die SPD musste in ihrem Godesberger Programm 1958 die auf Marx zurückgehenden Wurzeln verleugnen, um wählbar zu sein.
In den 20er Jahren war das noch anders, da hat die SPD durchaus um die Deutungshoheit gestritten.

Die leninsche/stalinsche/maosche Einvernahme von Marx und auch Engels haben den beiden überhaupt nicht gut getan.



Global:
Die versuchte Umsetzung der Ideen ist, wo es aus eigener Kraft geschah, leider immer in Ländern gewesen, denen jede Voraussetzung fehlte.
Russland, China, Kambodscha, Kuba, .... habe ich etwas vergessen?


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Titus Feuerfuchs - 12.02.2013 22:52

(12.02.2013 21:15)Suebe schrieb:  
(12.02.2013 19:06)Butterfly schrieb:  Sehe ich ähnlich. Beginnend mit den Bolschewiki, Lenin und dem Beginn des WK1.
Die Asiaten haben es dann auf ihre Art noch mehr verzerrt.


Ihr habt sehr recht.
Germanozentrisch:
Die SPD musste in ihrem Godesberger Programm 1958 die auf Marx zurückgehenden Wurzeln verleugnen, um wählbar zu sein.
In den 20er Jahren war das noch anders, da hat die SPD durchaus um die Deutungshoheit gestritten.

Die leninsche/stalinsche/maosche Einvernahme von Marx und auch Engels haben den beiden überhaupt nicht gut getan.



Global:
Die versuchte Umsetzung der Ideen ist, wo es aus eigener Kraft geschah, leider immer in Ländern gewesen, denen jede Voraussetzung fehlte.
Russland, China, Kambodscha, Kuba, .... habe ich etwas vergessen?


Ja, DDR, Polen und Tschechoslowakei, die die "Voraussetzungen" sehr wohl hatten.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Arkona - 12.02.2013 23:46

(12.02.2013 22:52)Titus Feuerfuchs schrieb:  Ja, DDR, Polen und Tschechoslowakei, die die "Voraussetzungen" sehr wohl hatten.
Kann man so nicht sagen. Die bekamen doch einfach das pervertierte stalinistische System aufs Auge gedrückt.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Titus Feuerfuchs - 13.02.2013 00:18

(12.02.2013 23:46)Arkona schrieb:  
(12.02.2013 22:52)Titus Feuerfuchs schrieb:  Ja, DDR, Polen und Tschechoslowakei, die die "Voraussetzungen" sehr wohl hatten.
Kann man so nicht sagen. Die bekamen doch einfach das pervertierte stalinistische System aufs Auge gedrückt.

Ändert nichts daran, dass sie die "Voraussetzungen" hatten.

Diese waren das Argument Suebes, der meinte, die Voraussetzungen hatte es nie, bzw. die Umsetzung geschah immer in Ländern, wo diese fehlten, was eben zumindest für die drei von mir angeführten Staaten nachweislich falsch ist.

Der Stalinismus ist wieder eine andere Frage, ebenso, ab welchem Grad der Marxismus pervertiert ist.

Mit dem redundanten Argument, eigentlich sei der Marxismus eh eine tolle Sache, er sei halt nur leider missbraucht worden, habe ich so meine Probleme.
Es ist zumindest eine unsachliche Verkürzung (oder salopp gesagt billig) und führt zur kontrafaktischen Frage, wie er (der Marxismus) denn hätte implementiert werden sollen.Huh

Denn das ist m.E. ohne Gewalt und Zwang unmöglich. Das trifft für industrialisierte , dh. "geeignete" Länder in noch verstärkterem Maße zu, da es dort in der Regel viel mehr Menschen gibt, die viel zu verlieren haben.

Ergänzung:

Marx wußte natürlich auch, dass seine Ideologie nur mit Gewalt durchsetzbar war, so schrieb er in seinem "Kommunistischen Manifest":

Zitat:[...]Nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland muss jedoch sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie beginnen, d. h. die proletarische Revolution beginnen. Die Kommunisten bemühen sich um die Verbindung der demokratischen Parteien aller Länder. Sie erklären offen, dass sie ihre Zwecke nur durch den „gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“ erreichen können.[...]

http://de.wikipedia.org/wiki/Manifest_der_Kommunistischen_Partei#Kapitel_4:_Stellung_der_Kommunisten_zu_den_v​erschiedenen_oppositionellen_Parteien


Dieser "gewaltsame Umsturz", die "proletarische Revolution", wurde von Lenin 1917ff auf Punkt und Beistrich erledigt.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Titus Feuerfuchs - 13.02.2013 00:37

(12.02.2013 21:15)Suebe schrieb:  Ihr habt sehr recht.
Germanozentrisch:
Die SPD musste in ihrem Godesberger Programm 1958 die auf Marx zurückgehenden Wurzeln verleugnen, um wählbar zu sein.
In den 20er Jahren war das noch anders, da hat die SPD durchaus um die Deutungshoheit gestritten.8....]

Es ist unstrittig, dass die Sozialdemokratie von Marx beeinflußt wurde. Dennoch hat sie sich -ganz im Gegesatz zu sämtlichen kommunistischen "Spielarten"- weit, sehr weit, vom eigentlichen Marxismus entfernt.

Sie erlaubt private Produktionsmittel, baut auf Demokratie und hat ein humanistisches Menschenbild, was u.a. zur Folge hat, dass der Einzelne, sprich das Individuum, einen hohen Stellenwert hat, während im Kommunismus nurdas Kollektiv zählt.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Suebe - 13.02.2013 12:57

(13.02.2013 00:37)Titus Feuerfuchs schrieb:  Es ist unstrittig, dass die Sozialdemokratie von Marx beeinflußt wurde. Dennoch hat sie sich -ganz im Gegesatz zu sämtlichen kommunistischen "Spielarten"- weit, sehr weit, vom eigentlichen Marxismus entfernt.

Aussage der Presseveröffentlichung im Eingangsbeitrag ist aber, dass laut dieser Marx-Neuausgabe sich eben die "kommunistischen Spielarten"
weit, sehr weit vom eigentlichen Marxismus entfernt haben.
Das ist das überaus interessante an dieser Neuveröffentlichung.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Butterfly - 13.02.2013 17:49

Jetzt müßte man allerdings definieren, was der "eigentliche" Marxismus ist/war.
Denn mit der Niederschreibung des Manifests und des Kapitals wurde noch kein Marxismus kreiert.

Zum Teil wurde das ja schon oben herausgearbeitet. Also würde auch die Ausgangsfrage/aussage nicht wirklich passen - wäre in sich verzirkelt, wenn nicht gar paradox.
Aber so sind Pressemitteilungen mitunter.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Suebe - 13.02.2013 19:21

(13.02.2013 17:49)Butterfly schrieb:  Jetzt müßte man allerdings definieren, was der "eigentliche" Marxismus ist/war.
Denn mit der Niederschreibung des Manifests und des Kapitals wurde noch kein Marxismus kreiert.

Zum Teil wurde das ja schon oben herausgearbeitet. Also würde auch die Ausgangsfrage/aussage nicht wirklich passen - wäre in sich verzirkelt, wenn nicht gar paradox.
Aber so sind Pressemitteilungen mitunter.

Das ist natürlich richtig.
Es haben anscheinend auch etliche zum Thema gesprochen.
Aus dem Link:
Zitat:Viele Experten waren beteiligt, einige bestritten das Programm der Tagung. Es war Harald Bluhm aus Halle, der an die Geschichte vom unbekannten Meisterwerk erinnerte, Teinosuke Otani aus Tokio machte neugierig auf Abteilung III und IV, die jeweils einen neuen Marx ins Licht der Öffentlichkeit stellen werden. Gegen Ende seines Lebens hat der Ökonom mit einem sozusagen sich von selbst durch Zusammenbruch erledigenden Kapitalismus nicht mehr gerechnet. Er zweifelte sogar seine Lieblingsidee von der fallenden Profitrate an. Friedrich Engels erlaubte sich bei seiner editorischen Arbeit allerlei Eigenmächtigkeiten. Aber: „Die Zeiten, in denen jedes von Engels gesetzte Komma heiliggesprochen wurde, sind vorbei“, so Thomas Kuczynski, Berlin. Es gibt ja die Handschriften, man kann heute gut auseinanderdröseln, was der akribische Theoretiker Marx, der einen quasi-naturwissenschaftlichen Ehrgeiz mit seinem Nachvollzug der „ökonomischen Bewegungsgesetze“ verband, wirklich geschrieben und was sein die Dinge weniger genau nehmender Freund Engels zuweilen dazugedichtet oder weggelassen hat. Hierzu sprach der Berliner Politikwissenschaftler Michael Heinrich.



RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Lucius - 30.12.2015 05:14

Eine Korrektur muss wohl doch noch hinzu: Weder Lenin noch Stalin haben den sog asiatischen Despotismus durchgesetzt oder gar verherrlicht. Das hat der ganz von selbst geschafft... Wink
Tsdjährige Traditionen schafft man nun mal nicht eben von heute auf morgen ab!
Lenin hat sich nachweislich an west-/mitteleuropäischen Entwicklungen orientiert und auch Stalin hat das getan. Gerade daraus haben ja etliche Verwerfungen und allmähliche Entstellungen resultiert!
Lenin musste und wollte die kapitalistische Wirtschaftsentwicklung nachholen, um die Marxsche Basis für die proletarische Revolution wenigstens im Nachhinein und unter Parteikontrolle zu schaffen. Dazu diente auch die NEP der 20er Jahre mit ihren neureichen Millionären. Stalin ist von der Parteibasis, um die er sich im Gegensatz zu anderen Funktionären, die in Moskau hocken blieben, besonders gekümmert hat, demokratisch gewählt worden. Lenin gefiel das gar nicht, denn mit ihm kam ein machtbewusster und äußerst misstrauischer Mensch in eine Führungsposition. Nach Lenins Tod hat er dann nach und nach alle eventuellen Konkurrenten (physisch) ausgeschaltet. Es gibt da eine sehr bezeichnende Anekdote...
Durch den entstehenden Personenkult (Hofschranzen gibt's in jeder Gesellschaft) verbunden mit einer Aura der Unfehlbarkeit, konnten Fehler nicht mehr im Vorfeld verhindert werden. Immerhin hatten M+E ja nicht hinterlassen wie der Sozialismus aufzubauen wäre, noch dazu unter solchen Bedingungen. Während Lenin noch mehr oder weniger erfolgreich experimentierte, wurde unter Stalin der Buchstabe zum Dogma, ob's nun passte oder nicht. Kennt man auch aus der Kirchengeschichte!
Immer, wenn aus einer (guten) Idee eine quasi-religiöse Überzeugung, ein Dogma wird, wird's gefährlich! Es fehlt dann das nötige Korrektiv. Nach Stalins Tod kam es dann allmählich zu einer dynamischeren Entwicklung, auch mit Fehlerkorrekturmöglichkeit, zB Ulbrichts NÖS in der DDR. Der Wechsel zu Breshnew als 'Entwicklungskonservativer' ließ dann diese Entwicklungen letztlich nicht zu, was dann zum Kollaps führte. Der ging eigentlich vom Kopf, der SU aus. Honecker mag zu spät gekommen sein und Ulbricht war vielleicht zu früh, aber der eigentliche und entscheidende Zuspätkommer war doch wohl Gorbatschow. Ihn (und die Anderen gleich mit) hat dann auch das Leben in Person von Jelzin und mit dem das russische Volk bestraft. Zwischen Wollen und Können (hier als Befähigung zum zielgerichteten Tun gemeint) besteht nun mal ein gewisser Unterschied...
Der asiatische Despotismus meint übrigens einen Beamtenstaat mit einer Regierung aus Beamten unter einem gottgleichen Führer. Der entwickelt sich bis zu einem gewissen Grad erfolgreich, erstarrt dann und steuert endlich in eine Krise, die zum Sturz der Regierung (oft auch des göttlichen bzw vergötterten Führers) führt. Danach entsteht allmählich eine neue Herrschaft mit gleicher Basis, aber idR auf höherer technisch-organisatorischer Entwicklungsstufe bis alles wieder von vorn losgeht. Wir haben hier also eine klassische Entwicklungsspirale, keine Linie oder gar Kurve mit Aufundabs. China ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Die Basis dieser Herrschaftsform und Produktionsweise sind übrigens regionale Wirtschaftseinheiten (Dörfer), die in ihrer Gesamtheit von Beamten verwaltet werden, nicht unbedingt leibeigene Bauern wie im hochfeudalen Europa.
Man kann sich als oberster Führer vor dem Hintergrund einer solchen Tradition durchaus zum Despoten entwickeln (besonders bei entsprechenden Charaktereigenschaften), obwohl man den sog. 'asiatischen Despotismus' eigentlich als unzeitgemäß archaisch ablehnt (das hat Stalin wahrscheinlich nicht mal gemerkt, wohl erst recht nicht Ceauşescu). Das hat sich nach der Wende in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken erneut bestätigt. Die ggw Entwicklung in Ungarn und Polen mag andere Ursachen haben und noch weit davon entfernt sein, erinnert aber durchaus an derartige Möglichkeiten...
Gruß + Guten Rutsch, Lucius


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Arkona - 30.12.2015 09:00

Was sich nach 1945 im östlichen Mitteleuropa abspielte, war eigentlich eine logische Fortsetzung des Nationalsozialismus. Ein gottgleicher Führer, dem die Massen willig folgen - so war zumindest das Wunschbild der Machthaber. Das Ganze bereichert um ein paar asiatische Nuancen (Stalin war Georgier, Lenin Kalmüke) und wir haben die Ostblock-Innenpolitik der 1950er Jahre. Eigentlich wird viel zu wenig Chruschtschow gewürdigt, der zumindest die groben Auswüchse beseitigte. Immerhin überstand er seine Ablösung auch, ohne vor einem Peloton zu enden.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Aurora - 30.12.2015 13:21

Ich habe mir mal darüber Gedanken gemacht, was geschehen wäre, würde der Kommunismus durchgesetzt worden wie es Karl Marx im kommunistischen Manifest erörtert hatte.
Der Kommunismus ist praktisch nicht durchführbar sondern eine Utopie. Nicht mal der Sozialismus hat sich auf Dauer durchgesetzt!
Es ist daher nicht möglich, weil die Ideen sozialer Gleichheit und Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder, auf der Basis von Gemeineigentum und kollektiver Problemlösung nicht umsetzbar ist.
Es gäbe keine Herrschaftssysteme.
Aber was würde der Kommunismus nach sich ziehen, gäbe es ihn?
Wäre somit ein Stillstand in der Wissenschaft/Forschung die Folge?
Wären Zahlungsmittel nicht mehr vorhanden, denn es gäbe ja keine Klassengesellschaften mehr?
Alle(s) wäre auf dem gleichen Stand; denn alle Bürger würden auf dem gleichen gesellschaftlichen Stand stehen.
Gäbe es keine Ausbeutung, keine Kriege mehr?
Ich stelle mir vor, dass alles oder vieles bis auf Null zurückgehen würde. Zwar würden Produktionen von Gütern und Lebensmittel produziert werden, aber für eine sog. klassenlose Gemeinschaft. Auch in der Wissenschaft/Forschung könnte kein Stillstand sein. Aber eine Verstaatlichung kann ich mir nicht in erfolgreicher Hinsicht und auf Dauer vorstellen..
Würde der Kommunismus ein totales Chaos herbeiführen? Gäbe es keinen Regenten mehr, der die kommunistischen Länder regieren würde?
Wie würdet ihr das sehen?
Eure Gedanken hierzu würden mich mal brennend interessieren.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Suebe - 30.12.2015 13:56

Marx fusst doch letztlich auf Hegel.

Hegel jedoch war ein Schwabe reinsten Wassers, und hat seine Vorlesungen im besten Tübinger Schwäbisch gehalten.
Auch und gerade in Berlin.

Meine Theorie: die haben ihn nicht verstanden. Auch der Pfälzer Marz oder der Rheinländer Engels nicht.
Glaubten aber ihn zu verstehen.

Mit allen bekannten und fürchterlichen Konsequenzen.


Halbernst gemeint.


RE: Presseschau Das Kapital - neu gelesen - Sansavoir - 31.12.2015 02:35

Der Marxismus steht praktisch auf drei Säulen, einer philosophischen, einer wirtschaftlichen und einer gesellschaftlichen. Philosophisch orientierte sich Marx an Hegel und Ludwig Feuerbach, er versuchte m.E. aus dem "preußischen Sozialismus" Hegels und dem Atheismus von Feuerbach eine neue Philosophie zu schaffen. Ökonomisch orientierte sich Marx an Adam Smith und David Ricardo, evtl. auch an Malthus. Aber im Gegensatz zu diesen Ökonomen befürwortete Marx den Kapitalismus nicht. Seiner Meinung nach musste er gezügelt bzw. kanalisiert werden. Das ist für ein Mann des 19. Jh. nicht verwunderlich, vor allem wenn er sich mit der sozialen Lage der Arbeiter bzw. der Unterschicht befasst. Hier orientierte er sich auch an soziale Projekte der beiden Franzosen Saint-Simon und Fourier oder des Engländers Robert Owen. Dabei darf man nicht vergessen, dass es seit Rousseau eine Menge Versuche gegeben hat, Menschen nach bestimmten Idealen zu erziehen bzw. auszubilden.

Nicht vergessen darf man, dass der ältere Marx sich radikalisierte und sich nach der Niederschlagung der Pariser Commune den anarchischen Ideen von Louis Auguste Blanqui ("Eigentum ist Diebstahl") und wohl auch Bakunins (?) zuwandte. Die Narodnowolzen entdeckten in den 1870er Jahren Marx und umgedreht war es auch so, dass sich Marx seitdem auch für Russland interessierte. In der deutschen Arbeiterbewegung war er nicht unumstritten. Die Bildung der SDAP und das Gothaer Programm von 1869 fanden faktisch ohne Marx'sches Tun statt, die Vereinigung der SDAP und des ADAV zur SPD bzw. das Eisenacher Programm von 1875 wurden von Marx heftig kritisiert. Man kann demnach sagen, dass die Spaltung der Arbeiterbewegung schon in diesen Jahren stattfand und nicht erst nach dem 1. Weltkrieg.

Die klassenlose Gesellschaft sollte angestrebt werden. Marx und Engels beschäftigten sich z.B. mit ethnologischen Studien. Letztlich waren sie Kinder ihrer Zeit - zwischen Rassismus und Idealisierung gegenüber den Indigenen. Auf die Frage, wie eine klassenlose Gesellschaft in einer industriellen oder postindustriellen Gesellschaft funktionieren soll, wird man bei Marx und Engels nichts finden. Ist wohl eine irdische Jenseitsvertröstung (?)

Ich denke, dass die gesellschaftliche Utopie des Marxismus nicht durchsetzbar ist. Das Scheitern der verschiedenen sozialistischen Experimente lag nicht an irgendwelchen machtgeilen und/oder korrupten Diktaturen, sondern an der Undurchführbarkeit dieses Gesellschaftskonzepts. Und der Marxismus war da nicht die erste gesellschaftliche Utopie. Robespierre war z.B. ein Anhänger Rousseaus, der dessen Vorstellungen umzusetzen versuchte. Oder Doktor Francia, Diktator von Paraguay, der sich wiederum an Robespierre orientierte. Es gibt unzählige Gescheiterte, die es nicht wahr haben wollten, dass Menschen eben so sind, wie sie sind und sich nicht gewaltsam umerziehen lassen.

Als Leipziger sehe ich in Moritz Schreber nicht nur den Erfinder der nach ihm benannten Schrebergärten, sondern auch einen Vertreter der "schwarzen Pädagogik", die Menschen durch Härte und Unnachgiebigkeit erziehen will. Wilhelm II. ist ein prominentes Opfer dieser Pädagogik. Schrebers ältester Sohn starb durch Suizid und sein jüngerer Sohn starb nach langjährigen Aufenthalten in der Psychiatrie. Hat jetzt vielleicht nicht unbedingt mit Marx zu tun, aber zwei von seinen drei Töchter starben durch Suizid und da ist zumindest die Frage legitim, welche Auswirkungn eine Kindheit unter einen selbst ernannten Welt- und Menschenverbesserer haben kann.