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Henri Rochette
18.10.2012, 20:23
Beitrag: #3
RE: Henri Rochette
Doch, wie das Sprichwort sagt, kommt Hochmut vor dem Fall, und so musste auch Rochettes Stern – so hell er gestrahlt haben mag – eines Tages zum Sinken kommen. Vermutlich hat irgendjemand irgendetwas ausgeplaudert, jedenfalls erreichte 1908 den Polizeipräsidenten Lepine eine Nachricht, dass alle Aktionen des Rochette nur Humbug seien. Die Quelle muss eine ziemlich glaubwürdige gewesen sein, denn sie wurde ernst genommen. Seine Freunde wollten den Schwindler noch warnen, er solle sich in Sicherheit bringen, doch der Staat war schneller.
Am 23. März 1908 marschierte die Polizei in den Palast, in dem Rochette residierte und sechs Direktoren und 400 Angestellte befehligte, ein, in die Zentrale des Credit Minier. Georges Clemenceau, der Schriftsteller und Politiker, der als Fürsprecher von Alfred Dreyfuß bekannt geworden ist, hatte den Auftrag gegeben. Er war fest entschlossen, den Fall möglichst schnell und rücksichtslos aufzuklären, denn ein weiterer negativ ausgehender Fall in diesen skandalbelasteten Jahren wäre schlecht für seine Partei gewesen. „Alles ist unter Kontrolle“ war seine Devise.
Detekteien wurde befohlen, den Beschuldigten in Untersuchungshaft abzuführen. Er wurde in das Gefängnis gesteckt. Es folgten jede Menge immer größere Skandale, denn immer mehr weltbekannte Persönlichkeiten, wurden als Opfer Henri Rochettes bloßgestellt. Der Prozess begann schnell, aber er sollte sich lange hinziehen. Die wildesten und verheerendsten Gerüchte kamen auf. Alleine hätte er so etwas gar nicht schaffen können: Er musste Freunde in der Politik gehabt haben! Aber wen? Namen wurden genannt, wie Albert Dalimier (Abgeordneter für das Departement Seine-et-Oise), Fernand Rabier (Abgeordneter des Departements Loiret) oder gar Jean Cruppi (Abgeordneter der Haute-Garonne – und seit Januar dieses Jahres Minister für Handel und Industrie)!
Über Jahre hinweg stritten sich Anhänger und Gegner (zu welchen auch der Marineminister Monis gehörte) über Rochettes Schuld, immer wieder wurde versucht, den Polizeipräfekten, der die Verhaftung herbeigeführt hatte, von seinem Amt zu vertreiben. Zu den Anhängern gesellten sich auch die hochgestellten Opfer, die nicht wollten, dass diese Peinlichkeit als solche publik würde, und dazu noch die Behörden, die nicht wahrhaben wollten, dass sie jahrelang auf solch einen Betrüger hereingefallen waren. Über Monate hatte in der Tat niemand bemerkt, wie über hundert Millionen Franken aus den verschiedensten Händen im Nichts verschwanden. Clemenceau besprach sich täglich und teilweise unter vier Augen mit Präfekt Lepine, aber auch mit Justizminister Briand. Rochettes Anwalt Ferdinand Rabier hatte alle Hände voll zu tun.
Schließlich wurde eine Untersuchungskommission unter Mr. Jaurös gebildet, die die Gerüchte überprüfen und Licht ins Dunkel bringen sollte. Jede Menge hochgestellter Persönlichkeiten mussten heimlich beschattet werden, ob sie bei dem Geschäft verwickelt gewesen waren. Doch sie kam zu wenigen Ergebnissen und sank zur Bedeutungslosigkeit hinab, obwohl sie noch weiter existierte und bei weiteren Skandalen (wie dem Mord-Skandal der Frau Calliaux) tätig wurde. Allerdings wurde ihr Vorsitzender nicht müde, die Umstände in Frankreich zu verurteilen, „unter denen solches Betrügerwesen überhaupt erst gedeihen könnten“ (zit. nach http://ilyaunsiecle.blog.lemonde.fr/2008...rochette/, eigene Übersetzung).
Schließlich wurde Rochette zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Das kümmerte ihn jedoch herzlich wenig. Denn das Gericht war ihm ebenfalls auf den Leim gegangen und hatte ihn für die Dauer seines Prozesses aus der Untersuchungshaft entlassen. 200.000 Franken hatte er als „Pfand“ zahlen müssen, damit er wieder zurückkomme, doch dieser „relativ kleine“ Betrag war ihm egal. Er hatte sich nach Mexiko abgesetzt und dort einen kleinen Landsitz errichtet.
Doch die Folgen des Skandals waren noch weitreichender: Die Presse beschuldigte den Finanzminister Calliaux, widerrechtlich eingegriffen zu haben. Der Beschuldigte trat darauf zurück. Insgesamt war bei dem Skandal ein Verlust von 150 Millionen Franken aufgetreten. Mehrere Opfer begingen Selbstmord. Mehrmals schlief der Prozess für Jahre ein. Doch er wurde immer wieder neu angefacht (so 1910, 1914, 1919 und 1927), und am 13. März 1927 gelang es, den entflohenen Betrüger wieder festzunehmen. Er wurde in eine einsame Zelle im „Prison de la Sante“ gesteckt. Als Rochette dann 1934 schließlich für schuldig befunden wurde, war beging er am 14. oder 15. April Selbstmord, in dem er sich die Kehle durchschnitt. Sein Bruder tötete sich ebenfalls. Im gleichen Jahr noch kam seine Autobiographie, „L’heure de Spartacus“ (übersetzt „Spartakus’ Stunde“) heraus.
Tatsächlich war er ein Spartakus gewesen: Ein einfacher Mann, der große Bedeutung erlangte. Doch während Spartakus für die Menschenrechte kämpfte und sich mit Gleichgesinnten zusammentat, arbeitete Rochette aus Gewinnsucht und für sich selbst. Er ist ein gutes Beispiel für die Zeit der Skandale in ganz Europa und besonders in Frankreich.

Wäre ich Antiquar, ich würde mich nur für altes Zeug interessieren. Ich aber bin Historiker, und daher liebe ich das Leben. (Marc Bloch)
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Henri Rochette - Maxdorfer - 17.10.2012, 19:02
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