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Auslöser und Grundlagen für eine/die Industrielle Revolution
02.11.2013, 23:51
Beitrag: #18
RE: Auslöser und Grundlagen für eine/die Industrielle Revolution
Die "Industrielle Revolution" ist nur in Zusammenhang mit der "Landwirtschaftlichen Revolution" und der "Politischen Revolution" zu sehen. Unter den Begriff „politische Revolution“ zähle ich nicht nur Ereignisse, wie die Französische Revolution, sondern auch das Wirken von Aufklärern und Philosophen (z.B. Kant, Voltaire, Rousseau, Locke u.a.). Außerdem dürfen Ökonomen wie Adam Smith und David Ricardo, aber auch die Entstehung eines modernen Bank- und Finanzwesen (trotz anfänglicher Pannen wie z.B. die Assignaten von John Law) und eines gerechteren Steuersystems nicht unbeachtet bleiben. Die drei (oder wenn man will vier) genannten Revolutionen bedingten sich gegenseitig, alle drei zusammen führten zur Umwandlung der bisherigen Agrargesellschaft in eine urbanisierte, nationalstaatliche Industriegesellschaft. Dieser Prozess fand in (West- und Mittel-)Europa und Nordamerika etwa im Zeitraum von ca. 1700 bis ca. 1870 statt (*) und sollte nicht getrennt, sondern im Zusammenhang und als Einheit betrachtet werden.

Es ist schon richtig, dass die bedeutendsten und spektakulärsten Erfindungen der IR in Großbritannien nach 1760 entstanden sind und somit das Vereinigte Königreich eine Vorreiterrolle übernahm. Ich denke da an die „Spinning Jenny“ von James Hargreave, an die Dampfmaschine von James Watt oder an die erste Lokomotive von Stephenson, die wiederum als Symbole für Mechanisierung, effizientere Energienutzung und Logistik stehen. Warum dies in Großbritannien geschah, haben 913Chris und andere schon oben beschrieben. Dabei darf man nicht vergessen, dass in Frankreich und Deutschland (und anderswo) ebenfalls neue Technologien entwickelt wurden. Ich denke da z.B. an den Jacquard-Webstuhl, an die Langsiebpapiermaschine, an den Tiegelstahl der Firma Krupp aber auch an das Einwecken oder die Daguerreotypie, um nur einige zu nennen.

Die landwirtschaftliche Revolution führte zu einem Anstieg der Bevölkerung und das trotz der Kriege von 1700 bis 1815 und der Seuchen (Pocken, Typhus oder Cholera). Ebenso stieg der Bestand an Pferden, dies ermöglichte einerseits den verstärkten Einsatz der Kavallerie in Kriegen, andererseits konnten mit Hilfe dieser Arbeits- und Transportpferde riesige Gebiete wie z.B. in Nordamerika erschlossen werden. Menschen reisten häufiger, dies wiederum führte zum verstärkten Austausch von Informationen und Ideen. Ein wichtiger Punkt der landwirtschaftlichen Revolution war die Einführung der Kartoffel als Nutzpflanze. Dort wo die Kartoffel (zum Teil trotz staatlicher Förderung) sich nicht als Nahrungsmittel behaupten konnte, waren Hungerskatastrophen noch möglich, so z.B. seit 1787/88 in Frankreich.

Das Verwenden der indisch-arabischen Zahlen war natürlich erforderlich, um mathematische, physikalische oder ingenieurtechnische Probleme zu lösen. Diese Zahlen waren aber seit Anfang des 13. Jahrhundert in Europa bekannt und im 18. Jahrhundert rechnete niemand mehr mit römischen Zahlen, die zu diesem Zeitpunkt nur noch für Jahreszahlen oder an Kirchturmuhren verwendet wurden. Die arabischen Zahlen wurden bereits seit dem 14. Jahrhundert in der Buchhaltung verwendet, so auch bei großen Handelshäusern wie den Fuggern oder Medicis. Ebenso nutzten die Verwaltungen der absolutistischen Staaten die arabischen Zahlen zur Bestandsaufnahme usw. Demnach müssten die Leistungen von z.B. Maschinen- oder Brückenbauern eher auf die mathematischen und physikalischen Grundlagen von Leibniz, Newton, Euler u. v. a. zurückzuführen sein.

Der Begriff „Industrielle Revolution“ verwendete erstmalig der französischen Ökonomen Adolphe Jerome Blanqui, ein Bruder des Sozialisten und Pariser Kommunarden Louis Auguste Blanqui. Er wollte auf Analogien zur Französischen Revolution und den daraus folgenden enormen gesellschaftlichen Veränderungen hinweisen. Karl Marx definierte die landwirtschaftlichen, industriellen und politischen Revolutionen als Übergang vom Feudalismus zum modernen Kapitalismus. Dabei beachtet er nicht, dass der Feudalismus spätestens seit dem 16. Jahrhundert überwunden war. Natürlich stellt sich die Frage, warum dann noch ca. 200 Jahre vergehen mussten, ehe die Prozesse begannen, die wir heute landwirtschaftliche, industrielle und politische Revolution nennen. Lag es an den Religionskriegen oder brauchte die Gesellschaft eben mehrere Generationen, um einen gewissen Bildungsstand, ein entsprechendes Niveau der Wissenschaften und die benötigte Aufgeschlossenheit für neue Wege zu erreichen?

Neben dem Begriff „industrielle Revolution“ gibt es ja auch die Begriffe „Zweite industrielle Revolution“ und „Dritte industrielle Revolution“. Die 2. IR schloss zeitlich an die 1. an, begann also um 1850/70 und endete wohl um 1970/90. (*) Kennzeichnend sind z.B. das Ersetzen der Mechanisierung durch Elektrifizierung, die Taylorisierung von Arbeitsprozessen (Massenproduktion), die chemische Industrie gewinnt an Bedeutung, neben Holz und der Steinkohle wurden z.B. einerseits Braunkohle, Erdöl und Erdgas, andererseits die Atomenergie als Energiequelle bedeutender, neben dem Schiffs- und Eisenbahnverkehr gewann der PKW- und LKW-Verkehr eine fast dominierende Bedeutung, durch den Einsatz von chemisch hergestellten Dünger bzw. von Pflanzenschutzmitteln wurde die Landwirtschaft effektiver, Kino, Radio und Fernsehen begannen das gesellschaftliche Leben massiv zu beeinflussen, man begann sich bewusst um die Stadtentwicklung zu kümmern und nicht zu vergessen als „politische Revolution“: die Gesetzgebung einschl. Sozialgesetzgebung oder das Behaupten der modernen parlamentarischen Demokratie (**) gegenüber totalitärer Regierungsformen. Hierzu gehört auch das Entstehen von Parteien, Interessenverbänden, Gewerkschaften, Genossenschaften u. a.

Seit 1970/90 befinden wir uns in der 3. IR. Die Arbeitsprozesse sind oder werden teil- oder vollautomatisiert, die Elektronik (und Mikroelektronik) prägt die Arbeitswelt. Ebenso entstehen neue Wissenschaftszweige, die Gentechnologie gewinnt an Bedeutung usw. Das Informationsmonopol der herkömmlichen Medien wird durch das Internet aufgehoben usw., praktisch jeder Haushalt hat einen PC und ein Handy usw., von denen man Nachrichten empfangen und senden kann. Die Gesellschaft wandelt sich in eine globale Kommunikations-, Informations- und Dienstleistungsgesellschaft. Herkömmliche Industriezweige werden z.B. nach Asien verlagert. In der Landwirtschaft findet der Anbau von genmanipulierten Pflanzen statt usw. Es gibt noch genügend andere Dinge, die ich aufzählen könnte, es würde jeglichen Rahmen sprengen.

Meine Gedanken gehen nun dahin. Am Ende der 1. IR (einschl. landwirtschaftliche und politische Revolution) entstanden die Nationalstaaten. Sie können als Institution zur Absicherung der Interessen von kapitalistisch wirtschaftenden Produzenten (Arbeitgebern) betrachtet werden. In der 2. IR setzte sich einerseits die moderne parlamentarische Demokratie gegenüber totalitären Regierungsformen und andererseits der Sozialstaat bzw. eine Sozialgesetzgebung durch. Damit wurde die Interessen der gesamten Gesellschaft gesichert, also auch die von Arbeitnehmern (Konsumenten). Meine Fragen sind, erstens: welche Bedeutung werden Nationalstaat oder Staatenbünde gegenüber global operierende Konzerne noch haben? Zweitens, sind die heutigen Sozialgesellschaften noch zeitgemäß oder brechen soziale Regeln, Gesetze und Bindungen weg zugunsten global handelnder Einzelner oder Gruppen? Drittens, sind die seit 1700 stattfindenden Prozesse permanent (***), so dass nach einer 3. IR, eine 4. und 5. IR usw. folgen wird („spiralförmige Entwicklung plus qualitativer Sprung“) oder sind es Prozesse, denen eine Endlichkeit beschieden sein wird? Als Grenzen für eine unendliche Entwicklung sehe ich z.B. die Entwicklung der Umwelt, des Klimas, die Demografie, die Ressourcenknappheit, die Vermüllung von Lebensräumen, aber auch ethische Skrupel an. Viertens, sollte man die komplexen Entwicklungen seit ca. 1700 als einen Prozess betrachten, der nur mit der neolithischen Revolution zu vergleichen ist?

(*) Nagelt mich bitte nicht wegen den Jahreszahlen fest, die Zeitabschnitte lassen sich ja bei einem ständigen Prozess schwer trennen. Am Besten ist es, man stellt sich das so vor, als ob die alte Baureihe noch produziert wird, obwohl schon ein neueres Modell auf dem Markt ist. Ich konzentriere mich bei meiner Analyse im Wesentlichen auf (West- und Mittel-) Europa und Nordamerika. Zeitlich versetzt und wohl eher rasanter fanden ähnliche Entwicklungen auch in Asien (Japan, China, Südkorea usw.) oder Lateinamerika statt. Ebenso lässt sich über die Entwicklung des Zarenreiches seit ca. 1890 und vor allem der Sowjetunion seit 1922 diskutieren.

(**) Auch die parlamentarische Demokratie nahm eine rasante Entwicklung von den Tories und Whigs des 18. Jahrhundert bis heute, wo de jure jedem über 18-jährigen Staatsbürger aktive oder passive Teilnahme an der parlamentarischen Demokratie offen steht, unabhängig vom Geschlecht, von der Steuerleistung bzw. dem Vermögensstand.

(***) Habe mal ganz provokativ das Wort „permanent“ gewählt, weil einst Leo Trotzki eine permanente Revolution, also die dauernde, nie aufhörende (radikale) Änderung der Gesellschaft forderte.

"Geschichte erleuchtet den Verstand, veredelt das Herz, spornt den Willen und lenkt ihn auf höhere Ziele." Cicero
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RE: Auslöser und Grundlagen für eine/die Industrielle Revolution - Sansavoir - 02.11.2013 23:51
Protoindustrialisierung - Suebe - 08.11.2013, 18:11

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