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Auslöser und Grundlagen für eine/die Industrielle Revolution
08.11.2013, 18:11
Beitrag: #23
Protoindustrialisierung
Industrialisierung ./. Gewerbealisierung
________________________________________
Der Begriff der Industrialisierung ist bekannt, die Vorgänge sind erforscht.

Ich finde aber, dass da ein ganz erheblicher Teil Vorgänge die zu unserer heutigen "Idustrie-Gesellschaft" führen, insgesamt nicht weniger wichtig, unter den Tisch fallen.
Kurz nach dem 30 jährigen Krieg beginnt eine Entwicklung in der Waren und Güter weitgehend außerhalb der Zünfte für den überregionalen Bedarf und Vertrieb in Stückzahlen gefertigt werden.
Diese Entwicklung, mangels Schlagwort möchte ich sie mal "Gewerbealisierung" nennen, würde ich hier gerne diskutieren, vielleicht interessiert es ja den einen oder anderen.


Ich denke mal die Quellenlage ist gar nicht mal sooo dünn. Aber allem nach tatsächlich überwiegend nur regional vorhanden.
Wobei ich stark annehme, dass sich doch überregionale Gemeinsamkeiten finden lassen.
Das Verlagssystem zB gab es anscheinend doch flächendeckend. Wobei für das System ist es ja weniger wichtig, ob da jetzt "Endschuhe", Holz- oder Blechspielzeug oder Uhren gebaut und vertrieben wird.

Auch die Zünfte, die Zeder und Mordio schreien, "wenn dann nur dieser Artikel und natürlich nur Bedürftige" müsste doch wohl auch eine überregionale Erscheinung sein.

Im Kopf habe ich gerade Textil, nicht weil ich da auch nur die geringste Ahnung hätte, aber regional Zugriff auf etliche Quellen.

Wenn ich mich aus dem einstigen Geschichtsunterricht richtig besinne, unterlag die französische Protoindustrialisierung doch weitgehend des staatlichen "Anstoßes".
Was für die deutsche weitgehend nicht der Fall ist. (Ganz im Gegensatz zur späteren Industrialisierung)
Hier würde ich eine weitere übergreifende Gemeinsamkeit sehen.

Das ist richtig. Denn die Anschubfinanzierung für die Industrialisierung kam zweifellos aus dem Handel.

Das "Verlagssystem" nutzte, dass es in der Landwirtschaft Zeiten des fast völligen Arbeitsmangels gibt. In diesen Zeiten war man für eine Erwerbsmöglichkeit dankbar.
Außerdem wurden Waren gefertigt, die nur geringe oder gar keine Kenntnisse zur Anfertigung benötigten.
Zu großer Bedeutung wuchs das "Verlagssystem" mit dem Ende der großen Pestepidemien, die in den Städten wesentlich mehr Opfer als auf dem flachen Land fand. In der Folge wurden Lebensmittel deutlich weniger nachgefragt.

Eine Hinderung durch Feudalgewalten wäre mir jetzt auch nicht präsent, aber meine Infos sind recht regional.
Anders ist es mit den Zünften, die haben ständig "Zeder und Mordio" geschrien, "nur bestimmte Artikel, nur durch Bedürftige" die sonst der Armenkasse zur Last gefallen wären.
Die Verleger sind natürlich der Mode gefolgt, andere Artikel, der nächste Streit mit den Zünften.

Die Calwer Zeughandelscompagnie ist ein wunderbares Beispiel. Anfang, Hochzeit und Ende des Verlagswesens im beginnenden 19. Jahrhundert. Bestens dokumentiert, schon weil ein Nachfolgeunternehmen erst vor wenigen Jahren dichtgemacht hat.

Außerdem soll der Überlieferung nach (Dokumente gibt es wohl keine) die Calwer Compagnie auch die Textilindustrie um Ebingen "angeschuckt" haben. Hier hat man aber schon früh auf andere Produkte gesetzt
Strumpfwirker im 18. Jahrhundert überwiegend.
Der Strumpfwirkstuhl wäre von örtlichen Mechanikern schon 1780 verbessert worden. Die Namen der Mechaniker sind dokumentiert.

Etwas ist an so Überlieferungen ja immer.
Hier ist allerdings die "Schmidsche Zeughandelskompagnie" so ca. 1730 entstanden. Deren Vorbild auf alle Fälle die Calwer war.
Für die Zeugherstellung vermutet man eine 2. Entwicklungslinie nach Oberschwaben.

Die Realteilungsgebiete waren natürlich bevorzugt für die Heimarbeit geeignet. Die Bevölkerung waren Selbstversorger und konnten von dem her bereits billiger wie städtische arbeiten.

Gerade die Kriege des 17. und 18. Jahrhunderts hatten einen großen Einfluss auf das Verlagssystem, wie sonst wären die benötigten Mengen an Textilien, Lederwaren usw. zu produzieren gewesen?
Und das Geschäft hat dann der gemacht, der liefern konnte.

Die Verleger hatten die Heimarbeiter recht schnell in der Hand, und haben diese Macht natürlich auch zum Lohndumping genutzt. Allerdings geht mMn die generelle Annahme "wie schlimm das früher war" auch in diesem Fall fehl. Es gibt ein paar Wahrheiten, die eigentlich immer schon gelten "Die besten Geschäfte sind die, an denen beide ihre Freude haben" und "Aus einem verzagten A..... wird nie und nimmer ein fröhlicher F.... kommen"
maW: Auf Dauer wird der Verleger die besten Geschäfte gemacht haben, der seine Produzenten auch leben ließ.

Regional:
Bei uns dominierend Ende des 18. Jahrhunderts Strumpfproduktion mit dem Strumpfwirkstuhl (unter Krünitz Online gibt es einen langen Artikel zu ihm).
Generell: Wobei im Produktionsprozess die verschiedenen Stufen keineswegs gleichzeitig mechanisiert wurden. Sondern mit Zeitdifferenzen bis zu einem Jahrhundert. Eine der ersten Spinnmaschinen in England trug übrigens den Namen "Jenny" die Verballhornung von Engine. maW die Maschine überhaupt war für die Zeitgenossen jene Spinnmaschine.

Im Raum Oberammergau hat man im Verlagssystem Holzspielzeug angefertigt. Im Erzgebirge war die Spielzeugproduktion glaube ich auch so organisiert. Aber da kenne ich mich nicht aus.

Die Schwarzwalduhr ist ein sehr interessantes Thema, das einen eigenen Thread vertragen könnte.

Veredelte Lebensmittel wurden schon im 16. Jahrhundert verstärkt angeboten, ich glaube in dem Vortrag des Prof. Kollmer habe ich sowas gelesen.


Zu den "veredelten Lebensmitteln"
Zitat:VortragProfKollmer2005

aus dem Link
Zitat:Das relativ wohlhabende 16. Jahrhundert ermöglichte den Bauern Spezialisierungen, da auf breiter Basis die Nachfrage nach teureren landwirtschaftlichen Produkten wie Fleisch, Gemüse oder Milchprodukte zunahm. Dies führte zu einer stärkeren Arbeitsteilung in der Landwirtschaft und zu landwirtschaftlichen Produktionsgürteln. So entstanden Gebiete, die sich der Getreidewirtschaft ab- und der weniger arbeitsintensiven Viehwirtschaft zuwandten, bzw. Mischformen anstrebten.

ich dachte ich hätte den Vortrag schon mal verlinkt. Sorry.

Also bei uns wurde "vermutlich" 3000 Jahre Bohnerz gegraben. bis in die 1870er Jahre, als die Eisenbahn die Alb erreichte, und das antransportierte Erz billiger war, als das gegrabene.
("Vermutlich" deshalb, weil der Nachweis für die Spatenforschung extrem schwierig ist, so oft ein neues Verhüttungsverfahren eingeführt wurde, hat man zuerstmal den Abraum der Vergangenheit durch den Ofen gejagt. Aber inzwischen ist zumindest ein Erzschmelzofen aus der Zeit ca. 1.000 vuZ nachgewiesen. Schlackenhäufen sind gigantische gefunden worden)
Die Hammerwerke, Eisengießereien zB Laucherthal, Fridingen, Thiergarten usw. usf. die teilweise bis heute bestehen, gehen auf diese Vorkommen zurück.
Zur Protoindustrie kann man dies ganz gewiss rechnen, Verlagssystem kaum. Die Bauern und insbesondere Taglöhner haben in der "arbeitslosen Zeit" der Landwirtschaft das Erz gegraben, aber alle anderen Ansatzpunkte für den "Verlag" fehlen ja.

Die empirisch entwickelten Verbesserungen sind als solche wohl typisch für die Zeit der Protoindustrialisierung (Gewerbealisierung ).

Ich habe auch meine Bücher gewälzt und bin da auf den Begriff des "Ökonomischen Denkens" gestoßen, das sich mit der Frühaufklärung entwickelt hätte.

Wenn ich das noch ergänzen darf.
Den Empirikern war dieses Kosten/Nutzen Denken fremd. Ihnen genügte es, wenn das "Ding", trial and error entwickelt, funktioniert hat. Es wird oft genug, oder noch viel öfter, nicht funktioniert haben.

Auf der anderen Seite gab es die Wissenschaftler, die ihre Ideen mangels Materialkenntnis, Wissen um das Machbare, nicht umsetzen konnten.
Beispiel Leibnitz bei dem einige Projekte aus diesem Grunde scheiterten. Seine Rechenmaschine, moderne Nachbauten funktionieren gut, er hat sie nie richtig zum laufen gebracht.

Im 18. Jahrhundert gab es ein paar wenige "Allrounder" der Leipziger Jacob Leupold und natürlich James Watt, die in beiden Welten zu Hause waren, und entsprechende Erfolge hatten.

Die Wissenschaftler und die Empiriker (Handwerker) lebten in 2 völlig getrennten Welten.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts setzte dann ein umdenken ein. die Wissenschaftler begannen sich um die Umsetzung ihrer Erkenntnisse zu kümmern und suchten sich Mechaniker die dazu imstand waren.

Das Beispiel eines solchen Duos:
Zitat:Philipp Matthäus Hahn ? Wikipedia
aus dem LinK
Zitat:Hier entwickelte er als technischer Autodidakt Sonnenuhren. Auch setzte er sich mit den Lehren Johann Arndts, der als Wegbereiter des Pietismus gilt, und der rationalistischen Philosophie Christian Wolffs auseinander. 1757 bis 1759 setzte Hahn seine Ausbildung in Tübingen fort. Dort entwickelte er Mikroskope, Monduhren, Teleskope und entwarf eine Rechenmaschine. Nach dem Studium arbeitete er in Lorch als Hauslehrer. Seine erste von mehreren Anstellungen als Vikar erhielt er 1761 in Breitenholz. 1764 wurde er Pfarrer in Onstmettingen, dem heutigen Stadtteil von Albstadt. Hier entstanden (unter der Mitwirkung Philipp Gottfried Schaudts) seine ersten Neigungswaagen und Weltmaschinen

Zitat:Philipp Gottfried Schaudt ? Wikipedia

aus dem link
Zitat:Schaudt war der kongeniale Mitarbeiter des schwäbischen „Mechanikerpfarrers“ Philipp Matthäus Hahn. Ohne Schaudt, der zeit seines Lebens nie von seinem Heimatdorf auf der Schwäbischen Alb fortzog [2], wäre es Hahn nach eigenem Bekunden nicht möglich gewesen, die von ihm konstruierten Rechenmaschinen und astronomischen Uhren in die Realität umzusetzen.

Hahn ist heute nahezu vergessen, er hat es nicht mal ins Lexikon geschafft.
(Soviel zu wiki, denn da ist er, siehe oben, drin)
Völlig zu Unrecht, denn seine Erfindungen waren teilweise bahnbrechend.
Auch geht die gesamte Waagen- und Feinmechanische Industrie in dieser Ecke Südwestdeutschlands direkt auf Hahn und Schaudt zurück.
Ein Beispiel
Zitat:Bizerba Openworld - Meilensteine

Aber es geht hier eigentlich mehr um das "Duo" und seine Bedeutung für die beginnende Industrialisierung.

Heute Nacht wollte ich im Vocke was nachschlagen.
Was begegnet mir? die Calwer Zeughandlungskompagnie

Weshalb ich zu obigem noch etwas ergänzen kann.

Die Calwer Compagnie hat sich anscheinend nach dem Vorbild der Ravensburger gegründet.
Nach dem 30jährigen Krieg wurden die "Zeugstoffe" den Tuchen zunehmend vorgezogen
Das Weben von Zeug stellt deutlich weniger Anforderungen an den Weber.
Vermutlich der Grund, dass die Weber in die Compagnie gleich gar nicht aufgenommen wurden.
Man die Zeugstoffe im Verlag herstellen ließ.

Gefärbt haben die Calwer recht früh schon mit Farben die auf der Basis von Metallen entstanden. Bezogen wurden die Metalle anfangs aus dem Schwarzwald, wo sich die Compagnie an etlichen Bergwerken beteiligte. Da die anfallenden Mengen aber nicht ausreichten, später aus Spanien.
Die in Spanien um 1780 entstehenden riesigen Preissteigerungen werden als einer der Gründe gesehen, die zur Auflösung der Calwer Compagnie führten.


Die immense Bedeutung des Färbens in der Zeugherstellung für das Verlagswesen hatte ich bisher nicht begriffen.
Jetzt weiß ich auch, warum das Nachfolgeunternehmen der örtlichen Compagnie noch bis ins 20. Jahrhundert den Beinamen "zum Farbhaus" trug.
Den Regionalisten freut es, wenn sich solche kleinen Rätsel auflösen.

Als Ergänzung ist mir noch folgendes aufgefallen:
Die Empirik als Abgrenzungs-Merkmal Protoindustrialisierung - Industrialisierung
scheint mir doch nicht so sehr dienlich zu sein.
In der Industrialisierung taucht dann plötzlich der Wissenschaftler auf, der sich der Empirik bedient.


NS:
Vor "ewigen" Zeiten habe ich diese Artikel-Reihe woanders verfasst
Ich finde hier passt sie gut rein.

"Die Inflation muss als das hingestellt werden, was sie wirklich ist, nämlich als Betrug am Staatsbürger, der um einen Teil seines Einkommens, aber noch mehr um seine Ersparnisse gebracht wird.!" (Ludwig Erhard, Bundeskalnzler 1963 bis 1966)
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Protoindustrialisierung - Suebe - 08.11.2013 18:11

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