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Wölfe / Falken (von Hilary Mantel) - Historische Literatur?
18.02.2016, 00:18
Beitrag: #1
Wölfe / Falken (von Hilary Mantel) - Historische Literatur?
Nachdem erst kürzlich auf Arte die BBC-Serie "Wölfe" / "Wolfs Hall" in einer deutschen Synchronisation gebracht wurde, ist es vielleicht interessant auch wieder einmal die beiden Romane zu diskutieren, auf denen die Serie basiert: "Wölfe" / "Falken" (von Hilary Mantel).

Mit Blick auf das, was gewöhnlich auf dem deutschsprachigen Buchmarkt als historischer Roman vermarktet wird, halte ich die beiden Romanen für Ausnahmebücher, das gilt sowohl für den Zugang, mit dem hier Geschichte erzählt wird, als auch die sprachliche Gestaltung.

Beide Romane sind Übersetzungen aus dem Englischen, und es stellt sich für mich daher auch die Frage, ob sie als Bücher eines/r deutschsprachigen Autor/in überhaupt auf dem deutschsprachigen Buchmarkt über einen bekannten Verlag geschafft hätten.

Für das Lesen von "Wölfe" habe ich für meine Verhältnisse recht lange gebraucht, fast mehr als 2 Monate. Wenn das bei mir der Fall ist, gibt es gewöhnlich drei Gründe:
- ich habe beruflich so viel zu tun und kommen nicht zum Leben,
- ich erlebe das Buch als langweilig und will nicht weiterlesen oder,
- mir macht das Lesen viel Spaß, aber es gibt eben viel beim Lesen zu erleben, und in einem Rutsch lässt sich das Buch nicht einfach durchlesen, und zudem lädt es zu mehrmaligen Lesen ein - was bei "Wölfe" der Fall war.

Dabei ist die Geschichte, die hier erzählt wird, auf den ersten Blick recht simpel - eine Aufsteigergeschichte. (ber diese Geschichte erzählen eigentlich sehr viele historische Romane, sei es mit historischen, sei es mit fiktiven Figuren. Sehr beliebt sind hier das Mittelalter und die frühe Neuzeit, obwohl damals Stand und Herkunft gewöhnlich das Leben eines Menschen bestimmten. Allerdings hat es auch in diesen Zeiten immer wieder Aufsteiger/innen gegeben, und auffällig ist auch, dass diese Aufsteiger/innen, wenn es ihnen nicht gelang, sich länger sich dauerhaft zu etablieren oder sogar ihre eigenen Dynastie zu begründen, meistens (auch von der Nachwelt) nicht wirklich positiv gesehen wurden. (Aber ist das heute so viel anders.)

Möglichkeiten ergaben sich über eine kirchliche Laufbahn (wie eben z. B. bei einem Kardinal Wolsey) oder über die Armee (als Kondottiere bzw. Söldnerführer) wie z. B. die "Bauernfamilie" Attendolo-Sforza, die letztlich die Viscontis als Herzöge von Mailand beerbten.

Die Rosenkriege und die Tudors dürften zurzeit das beliebteste Thema am historischen Buchmarkt sein, zumindest in Deutschland. Ständig erscheinen neue Bücher, sowohl anglo-amerikanische Übersetzungen wie die vielen Bücher einer Philippa Gregory oder Werke deutschsprachiger Autoren/innen wie z. B. von Rebecca Gable. Ich vermute, dass viele Leser/innen aus dem deutschen Sprachraum heute über diesen Abschnitt der britischen Geschichte viel besser informiert sind, als über die Geschichte ihres eigenen Landes.

Allerdings hat es zu Henry VIII. auch in früheren Jahrhunderten bereits immer wieder Theaterstücke und später auch Bücher gegeben, wobei gerade Anne Boleyn und Elizabeth I. (und manchmal auch Catherine Howard, Katharina von Aragon oder Catherine Parr) oder auch Personen aus seinem Umfeld wie Thomas More besonders beliebt waren.

Von Thomas Cromwell, der Hauptfigur in "Wölfe" lässt sich das nicht behaupten. In den Büchern über die Tudors / Tudorzeit, die ich in den 1980er und 1990er Jahren gelesen habe, war er bestenfalls eine Neben- oder Randfigur, wenn er überhaupt vorkam, und dann hatte er stets eine Negativrolle - der böse Kerl aus der Unterschicht, der für Henry sozusagen die Drecksarbeit macht, wobei Henry VIII. gewöhnlich auf seine Kosten sogar noch entlastet wird.

Wenn sein Tod in einem dieser Romane mal vorkommt, dann wird das entweder nur erwähnt oder als das verdiente Ende eines Schurken dargestellt, dass Leser/in diesem schon gönnt.

Hilary Mantel schreibt in ihrem Nachwort zu "Falken", der Fortsetzung von "Wölfe", dass es bis heute zu Thomas Cromwell nicht einmal eine Biographie gibt.

So betrachtet, ist die Idee, die Geschichte von "ihm" bzw. aus seiner Perspektive erzählen zu lassen, eindeutig originell und bietet auch eine neue Sicht auf ohnehin schon recht oft erzählten Geschehnisse um den Sturz des Kardinals Wolseys (das war bereits Thema eines Dramas von Shakespeare), den Aufstieg und Fall der Anne Boleyn (die es sogar zur Opernheldin geschafft hat) oder Aufstieg der Familie Seymour. Aber indem Mantel keineswegs die Ich-Form verwendet, sondern von der Außenperspektive auf seine Wahrnehmung eingeht, hält sie auch eine gewisse Distanz zu seiner Figur.

Mantel macht nun aus Thomas Cromwell keinen strahlenden oder verkannten Helden. Ihr Cromwell ist ein fähiger Mann, ein erfolgreicher Anwalt, ein guter Beobachter, einer, der es lernt, andere zu manipulieren, kein Heiliger, aber ein Mann mit Fähigkeiten, einer, der seine Talente einzusetzen weiß und der seine Chancen nutzt, einer, der das Leben kennt und keine Illusionen hat, der es nicht gerade leicht hat, wie z. B. die persönlichen Verluste zeigen, die er hinnimmt. Dennoch im Vergleich zu den meisten anderen Figuren gesteht im Mantel Integrität zu. (Gut erkennbar z. B. in seiner Beziehung zu Kardinal Wolsey.) Mantels Thomas Cromwell ist eine wirklich vielschichtige Romanfigur, und was ich besonders gelungen finde - dennoch ist er bei Mantel trotz allem ein "Durchschnittsmensch".
Der wesentliche Unterschied zu anderen historischen Figuren, die es im 21. Jahrhundert bisher zum Helden oder zur Heldin eines historischen Romans gebracht haben.

Inwieweit entspricht Mantels Cromwell dem historischen Thomas Cromwell?
Sie liefert kein Literatur- oder Quellenverzeichnis. Im Nachwort allerdings gibt sie zumindest eine ihrer Quellen an, einen Zeitzeugenbericht über den Sturz des Kardinals Wolseys, auf den sie auch etwas näher eingeht. Offensichtlich hat sie Wert auf Primärquellen gelegt, die von ihr keineswegs unkritisch übernommen werden. Wichtiger aber ist, dass sie offensichtlich nicht nur viel und auch kritisch recherchiert, sondern ihre Recherche-Ergebnisse auch verwendet hat.

Doch selbst wenn ihr Cromwell keineswegs dem historischen Thomas Cromwell entsprechen sollte, als interessante Romanfigur kann er in jedem Fall bestehen.

Bei einem Buch ist es für mich auch immer wichtig, hervorzuheben, was es von anderen Büchern unterscheidet, vielleicht sogar so einmalig macht:
Bei Mantle sind es interessante, originelle und gelungene Charaktere (das gilt selbst für Nebenfiguren), Cromwell bildet hier nur sozusagen die Spitze.
Die Dialoge nehmen viel Raum ein, verraten viel über die Figuren, Auseinandersetzungen und Konflikte werden meistens über sie ausgetragen, weniger durch direkt Gewalt (die allerdings vorkommt). "Wölfe" ist ein Roman, der (für das 21. Jahrhundert ungewöhnlich) weitgehend ohne Action auskommt.

Fazit / Persönliche Einschätzung: "Wölfe" und die Fortsetzung "Falken" gehören eindeutig zu den besten Romanen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, sogar zu den besten Romanen, die ich jemals gelesen habe.

Wenn es tatsächlich noch einen dritten Band geben wird, an dem die Autorin schreiben soll, so vermute ich, dass es wahrscheinlich auf eine Geschichte vom Aufstieg und Fall des Thomas Cromwell hinauslaufen wird. Ich hoffe sehr, dass er tatsächlich in den Handel kommt, und an die beiden ersten Bücher wenigstens halbwegs heranreicht.

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Josephine Tey, Alibi für einen König
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