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Kultur im Mittelalter/Völkerwanderung
04.12.2016, 19:57
Beitrag: #9
RE: Kultur im Mittelalter/Völkerwanderung
Die Dimensionen dieses "Niedergangs" sollte man sich einmal klar machen.

Mit dem Untergang des Römischen Reichs im 5. Jh. verließen die meisten Römer - Beamte, Kaufleute, Gutsbesitzer, Soldaten - die Provinzen und kehrten in ihre Heimat zurück. Die Römerstädte an Rhein, Donau und Rhone verödeten, römische Gutshöfe verschwanden, Straßen und Brücken zerfielen. Der Untergang der römischen Zivilisation führte bei den germanischen Völkern zu einem Niedergang des Wissens und der Kultur und bewirkte einen Rückfall in barbarische Verhältnisse.

Dieser Verfallsprozes war so tiefgreifend, dass Karl der Große und seine Berater den Plan fassten, alle Bereiche des Wissens und der Kunst zu erneuern, was mit einem modernen Begriff als Karolingische Renaissance bekannt ist. In diesem Zusammenhang kam es u.a. zu einer Erneuerung des Gottesdienstes und der Liturgie und eine erneuerte Fassung der Bibel, da sich in die zahlreichen lateinischen Bibelabschriften Fehler eingeschlichen hatten, die manche Bibelstellen völlig entstellten.

Der bekannte Historiker Henri Pirenne betont in einem vor Jahrzehnten geschriebenen aber immer noch aktuellen Werk:

"Obwohl die Kirche so tief gesunken war, blieb sie die einzige kulturelle Macht ihrer Zeit. Durch sie allein setzte sich die römische Tradition fort und dies verhinderte Europas Rückfall in völlige Barbarei. Die weltliche Macht wäre unfähig gewesen, die kostbare Erbschaft der Antike aus sich selbst heraus zu bewahren. Trotz des guten Willens der Könige war ihre rohe Verwaltung den Aufgaben nicht gewachsen ... Die Kirche blieb also inmitten der Anarchie ihrer Umgebung, und trotz der zersetzenden Wirkung, welche diese Anarchie auch auf sie selbst ausübte, unzerstört".
(Henri Pirenne, Geschichte Europas, Frankfurt 1961, S. 47)

Der Untergang des Imperium Romanum markiert auch das Erlöschen der Spätantike, wobei hier natürlich kein festes Datum zu nennen ist. Es gibt einen allmählichen Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter, der von Historikern meist als breiter Grenzsaum gesehen wird, der von der Teilung des Römischen Reichs in einen Westen und Osten über das faktische Ende Westroms bis hin zur Expansion des Islam im 7. Jh. reicht. Manche sprechen dabei auch von einem "Transformationsprozess" der Antike.

Nach Auflösung der römischen Staats- und Ordnungsstrukturen erfolgte neben einem kulturellen Niedergang auch eine wirtschaftliche Verödung. Henri Pirenne berichtet vom Verschwinden der Städte und des Handels als Folge dieser Entwicklung:

"Vom sozialen Gesichtspunkt aus ist das bedeutendste Phänomen, das in die Zeit zwischen den muslimischen Eroberungen und der Herrschaft der Karolinger fiel, die schnelle Verminderung und nachher das fast völlige Verschwinden der städtischen Bevölkerung ... Die soziale und verwaltungsmäßige Struktur verlor nun ihren dem städtischen Charakter des römischen Staates entsprechenden Charakter: ein Phänomen, das in Westeuropa ganz neu und sehr erstaunlich war. Das Ende des städtischen Typus im frühen Mittelalter ergab sich zumindest für die Verwaltung daraus, dass die Eroberer des Römischen Reiches außerstande waren, dessen Institutionen in der alten Form weiterfunktionieren zu lassen; denn nur die Institutionen des römischen Staates hatten in den durch Barbaren eroberten Provinzen - in Gallien, Spanien, Italien, Afrika und Britannien - einst die Existenz der Städte gesichert. Nur noch einige Städte an den Küsten des Mittelmeers trieben auch noch nach den Völkerwanderungen einen mehr oder weniger bedeutenden Seehandel."
(Henri Pirenne, a.a.O., S. 81)

Pirenne beschreibt sehr eindringlich, dass Wirtschaft und Handel nach den Eroberungen des Islam im Mittelmeerraum völlig versandeten:

"Daraus aber musste sich ein fast vollkommener Stillstand des Handels ergeben; auch das Gewerbe verschwand fast ganz, wenn man von einigen lokalen Erscheinungen wie der in Flandern noch aufrechterhaltenen Tuchweberei absieht. Der Umlauf von Geld hörte beinahe auf. Seitdem verfielen in den fast entvölkerten Städten die verlassenen Viertel und dienten den wenigen Einwohnern, die sich auf einen Winkel des früheren Stadtinnern beschränkten und dort hausten, als Steinbrüche ... In Gallien erlosch das städtische Leben so völlig, dass die Herrscher nicht mehr in den Städten residierten, denn der vollkommenen Mangel eines Handelsverkehehrs ermöglichte es ihnen nicht mehr, dort genügend Lebensmittel für den Unterhalt des Hofes zu finden. Sie verbrachten das Jahr auf den Domänen und zogen von einer zur anderen."
(Henri Pirenne, a.a.O., S. 83)

Große Teile des einst von Römern beherrschten Europas verödeten zwischen dem 5. und 8. Jh., der Handel versiegte und man kehrte zur Naturalwirtschaft zurück. Es entstanden besonders in Gallien riesige Domänen, die nahezu autark waren, da der Fernhandel weithin zum Erliegen gekommen war. Es waren also "Dark Ages", die weite Teile Europas nach dem Untergang des römischen Imperiums erfassten, was auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen ist, die einander bedingen und immer neue Auswirkungen haben. Dieser Zustand beginnt sich erst mit den Karolingern und später den Ottonen und Kapetingern zu wandeln.
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RE: Kultur im Mittelalter/Völkerwanderung - Dietrich - 04.12.2016 19:57

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