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Parallelgesellschaft-Subkultur-Ghetto+Nationale Minderheiten
05.01.2015, 20:07
Beitrag: #10
RE: Parallelgesellschaft-Subkultur-Ghetto+Nationale Minderheiten
(05.01.2015 13:44)913Chris schrieb:  Wird überall so sein. Hier in Ingolstadt ist 1845 die erste evangelische Kirche (gleichzeitig die erste evangelische Pfarrkirche Bayerns) mitten im Zentrum, am Holzmarkt gebaut worden - wohl für die Arbeiter, die an der Festung bauten wie auch für die evangelischen Soldaten. Da es damals mehr Soldaten als Zivilisten in Ingolstadt gab, mussten sich eher die Einheimischen integrieren...was sie in altbayerischer Sturheit aber auch nicht wollten.
So blieben die Evangelischen in Ingolstadt lange Zeit Außenseiter, eigentlich bis zur Ankunft vieler evangelischer Flüchtlinge nach 1945. Der allgemeine Umbruch und die schiere Zahl von Evangelischen führten dazu, dass die erzwungene Eigenbrötlerei der lutherischen Konfession im Raum Ingolstädt ein Ende hatte.
Diese Eigenbrötlerei war noch im 19.Jh. ganz extrem - es wurden gar eigene Ansiedlungen für Kolonisten aus der Pfalz, aus Baden, Württemberg und Franken gegründet: 1832 Friedrichshofen (1835 von der Nachbargemeinde Gaimersheim politisch unabhängig geworden, Grund waren konfessionelle "Unstimmigkeiten"), 1816 Brunnenreuth (die ersten - ursprünglich v.a. pfälzischen und mehrheitlich evangelischen - Kolonisten kamen aus dem Donaumoos; anfangs hausten die Siedler buchstäblich in Erdlöchern, erst 1829/30 konnte der spätere Gründer von Friedrichshofen, Friedrich Schultheiß, einen Schulbau finanzieren, 1874 wurde im Ortsteil Spitalhof die einzige evanglische Dorfkirche Bayerns erbaut).

Ich bin mir nicht sicher, ob der evangelisch-katholische Gegensatz im Ingolstadt des 19.Jhs. vergleichbar ist mit dem christlich-islamischen Gegensatz bzw. dem Migranten-Einheimischen-Gegensatz heutigentags (immerhin um die 40% der Einwohner Ingolstadts haben Migrationshintergrund, etwa 9% der Ingolstädter sind muslimisch, in Ingolstadt steht die größte Moschee Bayerns). Ich denke aber schon.
Es dauerte 100 Jahre, bis die Evangelischen in Ingolstadt keine Außenseiter mehr waren.

Etwas ketzerisch in den Raum geworfen, dauerte die Beilegung des ev-kath.- Gegensatzes so lange bis mit dem Islam eine weitere Religion zur Abgrenzung hinzukam?
Nein, eigentlich war es das nicht, irgendwann zwischen den 60ern und 80ern hatte sich die Trennung zwischen den Konfessionen so ziemlich erledigt und die Hinterhofmoscheen störten noch nicht.


(05.01.2015 13:44)913Chris schrieb:  Demgegenüber stehen heute 9000 Muslime unter 130.000 Ingolstädtern, die sich in zwei Bezirken konzentrieren (entspricht ungefähr dem Zahlenverhältnis der Evangelischen zu den Katholischen des 19.Jhs.). Diese beiden Bezirke stellen zwar soziale Brennpunkte in Ingolstadt dar, aber eben auch deshalb, weil
- Audi "seine" Gastarbeiter bevorzugt ums Werk herum angesiedelt hat (in Plattenbauten) und weil
- später (nach 1990) auch die sog. "Russlanddeutschen" in genau denselben Vierteln angesiedelt wurden. Dass sich daraus Probleme ergeben, hätte eigentlich allen klar sein sollen. Nur - in den "vornehmeren" Vierteln wollte man weder Türken noch "Russen" haben, so blieb der Stadt in den Neunzigern auch wenig anderes übrig.

Auch ohne Audi ist das bei uns genauso, die sozialen Brennpunkte sind in den 70er Großwohnanlagen, dem BRD-Plattenbau. Die Zuzugszeitpunkte sind ähnlich. In diesen Betonsilos scheint es jede soziale Maßnahme bes. schwer zu haben, wer es irgendwie schafft, zieht da weg und wenn es nur in den Nachbarstadtteil mit den auch nicht mehr schönen 50er Jahre Blöcken ist.

(05.01.2015 13:44)913Chris schrieb:  Der Punkt ist der: Vor allem im Piusviertel (= dem Audi-Viertel) kann man beobachten, wie kroatische, türkische etc. Reisebüros, Supermärkte, sonstige Läden aus dem Bodengeschossen sind, v.a. in den letzten 20, 30 Jahren. Namen aus allen Erdteilen sind an den Klingelschildern zu lesen. Stadtteilfeste sind ein Sammelsurium aus unterschiedlichsten Musikstilen, Spielen, Süßigkeiten. Das ganze Viertel entwickelt so langsam ein eigenes Flair, von denjenigen Ingolstädtern, die sich zur "Intelligenz" rechnen, sichern sich viele Wohnungen (allerdings weniger in den Plattenbauten als vielmehr in den übriggebliebenen gründerzeitlichen Häusern in der Nähe der Altstadt), die Stadt investiert in die Infrastruktur (gerade wird die Ringstraße untertunnelt). Ich denke, es dauert noch 20 Jahre, spätestens dann ist zumindest das Piusviertel ein zwar etwas anderes Viertel von Ingolstadt, aber kein sozialer Brennpunkt mehr. Das heißt: Die Integration der "Ausländer" in Ingolstadt läuft nicht mehr innerhalb von 100, sondern innerhalb von vielleicht 50 Jahren ab.

Unsere alte Arbeiterstadt, Anfang des 20. Jhd. eingemeindet, im Straßenbild eine bunte Mischung aus Wiederaufbau-Gründerzeit neben 50er Schlicht gliedert sich in 3 Bereiche. Die Mitte um das alte Rathaus ist schon ziemlich gentrifiziert. Die schönen, großen Eigentumswohnungen muß man sich leisten können und hat trotzdem eine Adresse mit linken Touch.
Der nördliche Bereich um eine Einkaufsstraße ist bekannt für seine bes. bunte Mischung, Eine-Welt-fair-trade-Laden neben 1-€-Shop und Gebrauchtmöbelladen neben Edel-Bio-Döner. In 10 Jahren wird´s da richtig teuer.

(05.01.2015 13:44)913Chris schrieb:  Noch mal was zu den Zahlen:
"Der Ausländeranteil an der Ingolstädter Bevölkerung lag 2005 bei 12,7 %, davon wiederum kommen 26,6 % aus den EU-Mitgliedstaaten. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund liegt hingegen bei ca. 40 % (Stand Dezember 2010)[14]. Die größte Gruppe der ausländischen Einwohner bilden die Türken mit 5273 Personen, gefolgt von den 3442 Angehörigen der Staaten des ehemaligen Jugoslawiens und 678 italienischen Staatsangehörigen. Zwischen den Stadtbezirken gibt es große Unterschiede beim Anteil der ausländischen Bevölkerung. So leben in den Stadtbezirken Süd und West unter 5 % ausländische Bürger, während es in den Bezirken Nordost und Nordwest über 20 % sind. Insgesamt liegt der Anteil von Personen ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zum Teil deutlich niedriger als in den übrigen bayerischen Großstädten." (Wikipedia)

Rechne ich richtig? 12,7% Ausländer plus 40% Migranten = 52,7% der Einwohner Ingolstadts haben keine deutsche Herkunft. Mehr als die Hälfte.

Gleichzeitig ist Ingolstadt die am schnellsten wachsende Großstadt Bayerns und diejenige mit der niedrigsten Arbeitslosenrate.

Ich wage eine These: Solange Ingolstadt durch die Festung und das Militär sich nicht entwickeln konnte, blieben "Migranten" (in der Rolle waren die Evangelischen im 19.Jh. hierzulande) Außenseiter und ließen sich kaum integrieren. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg stieg die Zahl der Migranten (Sudetendeutsche, Italiener, Jugoslawen, Türken, nach 1990 noch einmal "Jugoslawen", Russlanddeutsche, Albaner...) enorm an, was aber bei weitem nicht die Probleme brachte wie der Zuzug der Evangelischen im 19.Jh., sondern im Gegenteil zur weiteren Prosperität der Stadt beitrug.

Kann gut sein, dass deine These stimmt, Chris. Richtig vergleichen kann man zwar die Zeiten nicht, vielleicht funktioniert der Vergleich besser über die sterbenden Regionen. Davon gibt es etliche, manchmal weiß man nicht warum. Hatte schonmal versucht, dass hier zu thematisieren http://www.forum-geschichte.at/Forum/sho...p?tid=6503
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RE: Parallelgesellschaft-Subkultur-Ghetto+Nationale Minderheiten - Renegat - 05.01.2015 20:07

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