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Proteste in der Türkei - Druckversion

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Proteste in der Türkei - Maxdorfer - 18.06.2013 19:40

Alles begann damit, dass einige Bewohner Istambuls dagegen protestierten, dass an die Stelle ihres beliebten Gezi-Parkes inmitten der größten Stadt der Türkei ein Einkaufszentrum errichtet werden sollte. Diese kleine spontane Aktion wuchs sich schnell zu einem allgemeinen Protest gegen den Regierungsstil des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan aus. Der Staat greife zu sehr in die Berichterstattung der Medien, aber auch in das Privatleben der Bürger ein, wurde kritisiert. Für Unmut sorgte beispielsweise auch eine Verordnung, die den Verkauf von Alkohol in der Nacht sowie in der Nähe von Schulen verbieten soll.
Die Demonstrationen fanden meist auf dem im der Nähe des Gezi-Park gelegenen Taksim-Platz statt. Da die Regierung undemokratisch starken Einfluss auf die Medien ausübt, wurden sie über soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter organisiert.
Erogan beschloss zunächst, mit harter Hand vorzugehen, kündigte dann aber Verhandlungen an. In der Tat fanden kurz darauf Gespräche statt, bei denen die angeblichen Vertreter der Demonstranten mit den wirklichen Protestierenden und deren Forderungen allerdings wenig zu tun hatten. Schließlich ließ Erdogan den Park mit Wasserwerfern und Tränengas räumen. Derweil breiteten sich die Demonstrationen immer weiter aus und griffen auch auf andere Städte der Türkei wie zum Beispiel die Hauptstadt Ankara über. Insgesamt kamen bereits vier Demonstranten sowie ein Polizist zu Tode.
Kritik aus dem Ausland bekam Erdogan unter anderem auch für die Beschimpfung der internationalen Presse mit der Aussage, diese würden ein völlig falsches Bild von der Türkei und den dortigen Verhältnissen vermitteln.

Was denkt ihr - Wird der Regierungschef der Türkei vielleicht das Ruder wieder in den Griff bekommen und seine Popularität und Autorität zumindest teilweise wieder zurückgewinnen? Wird es zu einer Art neuem 'Arabischen Frühling' kommen und Erdogan gestürzt werden? Oder wird das Ganze eventuell eher wie ein neuer 'Prager Frühling' enden?


RE: Proteste in der Türkei - hpd1311 - 18.06.2013 19:48

Ich befürchte eher einen neuen "Prager Frühling"!

Erdogan hat zu viele Personen, die ihn unterstützen.

Ich vermisse außerdem den Aufschrei der westlichen Demokratien...


RE: Proteste in der Türkei - Maxdorfer - 18.06.2013 19:56

Ich habe das Thema einfach mal in das Europa-Unterforum gestellt - schließlich befinden sich Gezi-Park und Taksim-Platz auf der europäischen Seite von Istanbul Big Grin - und wenn das momentane Verhalten von Erdogan dies nicht verhindert, gehört auch der Rest der Türkei demnächst zur EU...


RE: Proteste in der Türkei - Arkona - 18.06.2013 20:12

(18.06.2013 19:56)Maxdorfer schrieb:  - und wenn das momentane Verhalten von Erdogan dies nicht verhindert, gehört auch der Rest der Türkei demnächst zur EU...

Das sehe ich nicht so. Die vollmündigen Bekenntnisse Europas sind doch nur Makulatur, erst Recht solange der Möchtegern-Sultan heimlich von Kairo, Bagdad und Wien träumt. Wird noch Jahrzehnte mit der EU dauern. Vielleicht mal eine Sonderwirtschaftszone direkt am Bosporus, mehr nicht.


RE: Proteste in der Türkei - Sansavoir - 18.06.2013 20:39

Schwierig zu sagen. Ich denke, dass es zu keinen, mit dem "Arabischen Frühling" vergleichbaren Ereignisse kommen wird. Erdogan hat genügend Anhänger und während seiner Regierungszeit entwickelte sich die Türkei wirtschaftlich positiv. Er galt bisher in der EU und in der NATO als Garant politischer und wirtschaftlicher Stabilität. Er kann sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei mit Unterstützung rechnen.

Eine Sonderstellung in der türkischen Gesellschaft nahm bis Mitte des letzten Jahrzehnts das kemalistische Militär ein. Momentan ist es neutralisiert, aber die Ereignisse der letzten Tage in Istanbul und Ankara lassen den Eindruck entstehen, dass die Polizei die Rolle der entmachteten Militärs übernommen hat. Somit hat sich die Situation der türkischen Gesellschaft nicht wirklich gebessert.

Die Ursachen des Konflikts sind m.E. in den Gegensatz zwischen den liberalen Großstadtgesellschaften und den rückständigen Gesellschaften der Provinzen zu suchen. Erdogan ist ein Vertreter dieser Provinzen. Er ist an die wirtschaftliche Entwicklung dieser Provinzen interessiert, aber er will nicht die autokratischen, patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen überwinden. Sein Agieren in den letzten Tagen verstärkt den Eindruck, dass es unter ihm keine weitere demokratische Entwicklung geben wird, stattdessen werden wohl Presse und TV gleichgeschaltet werden. Aber man sollte optimistisch sein, vielleicht führt der "stille Protest" der Menschen vor dem Atatürkdenkmal zu einer Deeskalation der Gewalt.

Dass mit protestierenden "Wutbürgern" anders umgegangen werden kann, als es Erdogan macht, beweist momentan die brasilianische Staatspräsidentin, die den Dialog mit den demonstrierenden Jugendlichen sucht. Wollen wir hoffen, dass dies so bleibt und die Frau nicht zu früh gelobt wurde.


RE: Proteste in der Türkei - Uta - 19.06.2013 12:14

Ich hoffe, ich lehne mich jetzt nicht zu weit aus dem Fenster, aber ein Zurückrudern Erdogans wird nicht möglich sein. Er würde fundamental sein Gesicht verlieren und bei den traditionell gläubigen Moslems keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen, auch bei den liberaleren Türken käme es als Schwäche rüber. Wenn er einlenkt, kann er gleich abdanken.


RE: Proteste in der Türkei - Maxdorfer - 19.06.2013 20:08

(19.06.2013 12:14)Uta schrieb:  Ich hoffe, ich lehne mich jetzt nicht zu weit aus dem Fenster, aber ein Zurückrudern Erdogans wird nicht möglich sein. Er würde fundamental sein Gesicht verlieren und bei den traditionell gläubigen Moslems keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen, auch bei den liberaleren Türken käme es als Schwäche rüber. Wenn er einlenkt, kann er gleich abdanken.

Nun ja, seine Regierung hat die absolute Mehrheit und ist bei vielen Türken auch noch recht beliebt. Eine türkische Klassenkameradin von mir meinte ebenfalls, wenn Erdogan seine Fehler wieder gut mache, würde es wohl eher nicht zu einem arabischen Frühling kommen.
Aber letztlich kann man natürlich nie wissen, wie sich die Stimmung in der Bevölkerung entwickelt. Das kommt auch ganz auf Erdogans Verhalten in nächster Zeit an. Er müsste jetzt schon sehr intelligent vorgehen, um sich auch wirklich bei einer breiteren Masse der Bevölkerung beliebt zu machen.


RE: Proteste in der Türkei - Maxdorfer - 19.06.2013 20:13

(18.06.2013 19:48)hpd1311 schrieb:  Ich befürchte eher einen neuen "Prager Frühling"!

Meiner Meinung nach ist es unwahrscheinlich, dass Erdogan in Zukunft noch härter gegen die Demonstranten vorgeht, als er es momentan schon tut. Das würde auch den eher konservativen Türken nicht passen, und außerdem gibt es auch jede Menge Liberale in der Türkei, die vor allem internationale Beachtung finden. Die Türkei ist ja auch im Vergleich zu den anderen muslimisch geprägten Ländern trotz allem recht modern.
Und nicht zuletzt steht der Ministerpräsident unter internationaler Beobachtung - und die EU-Länder haben mit den Beitrittsverhandlungen bzw. deren Beendung ein nicht zu unterschätzendes Druckmittel (wie realistisch die Hoffnungen auf einen Beitritt der Türkei in die Europäische Union auch sein mögen).


RE: Proteste in der Türkei - kugelschreiber - 21.06.2013 17:55

Erdogan ungangreifbar an der Macht = Opposition genervt, weil kein Demokratischer Sieg möglich = schicken anhänger auf die Straße und unzufriedene schließen sich an.

Meine Meinung, man kann über ihn streiten aber er ist der gewählte Staatsführer.


RE: Proteste in der Türkei - Uta - 21.06.2013 19:32

Die Türken, mit denen ich mich die letzten Tage unterhalten habe, sehen die Entwicklung mit immer größerer Sorge. Sie sagen, Erdogan spalte das Land, die Gräben zwischen konservativen und liberalen würden immer größer werden und am Ende drohe vielleicht ein Bürgerkrieg.

Ich fürchte, so ganz unbegründet sind ihre Sorgen nicht.

Nachtrag:

Herzlich willkommen im Forum @Kugelschreiber Shy


RE: Proteste in der Türkei - kugelschreiber - 21.06.2013 19:39

vielen dank, war aber schonmal im alten dabei, habs dann schleifen gelassen und aufeinmal wars weg, hab jetzt erst gemerkt das es ein Nachfolgeforum gibt.
Bürgerkrieg? Nein daran hat niemand im Ausland interesse. Die Opposition bekommt demzufolge nicht genug Waffen.
Doch es gäbe Staaten wenn ichs mir recht überlege: Israel, Syrien und der Iran. israel wird sichs nicht mit den Amis verderben. die Syren hat bei weiten andere Probleme und der Iran unterstützt bereits Syrien und deren Resourssen sind nicht unbegränzt.


RE: Proteste in der Türkei - Suebe - 22.06.2013 09:34

Es ist äußerst schwierig sich über die Situation in der Türkei ein klares Bild zu machen.
Die Medienberichte sind dabei noch am zuverlässigsten.

Die Aussagen unserer türkischen Mitbürger sind zu allen Punkten die Türkei betreffend mit aller größter Vorsicht zu genießen.

Dort läuft wesentlich mehr an beinahe unglaublichen Sachen als wir uns überhaupt vorstellen können.


Edit: auch von mir ein herzliches Willkommen!


RE: Proteste in der Türkei - Arkona - 22.06.2013 10:17

(21.06.2013 19:39)kugelschreiber schrieb:  Bürgerkrieg? Nein daran hat niemand im Ausland interesse. Die Opposition bekommt demzufolge nicht genug Waffen.
Von Waffen redet doch niemand. Bürgerkrieg ist es auch, wenn sich die Leute auf der Straße permanent schwer prügeln. Man stelle sich mal in Deutschland Neonazis und Autonome bei Demonstrationen vor, wenn keine schwer gerüsteten Robocops dazwischen stehen...


RE: Proteste in der Türkei - kugelschreiber - 22.06.2013 15:31

Ne, dann sind es Aufstände. bürgerkrieg ist KRIEG. Das heißt zwei oder mehr bewaffnete Gruppen/Organisationen usw. kämpfen gegeneinander.
Und nach Clausewitz beginnt der Krieg erst, wenn der angegriffene sich verteidigt.


RE: Proteste in der Türkei - Sansavoir - 22.06.2013 21:12

(22.06.2013 15:31)kugelschreiber schrieb:  Ne, dann sind es Aufstände. bürgerkrieg ist KRIEG. Das heißt zwei oder mehr bewaffnete Gruppen/Organisationen usw. kämpfen gegeneinander.
Und nach Clausewitz beginnt der Krieg erst, wenn der angegriffene sich verteidigt.

Da wollen wir nur hoffen, dass es nicht zum Bürgerkrieg kommt.


RE: Proteste in der Türkei - hpd1311 - 22.06.2013 21:23

(19.06.2013 12:14)Uta schrieb:  Ich hoffe, ich lehne mich jetzt nicht zu weit aus dem Fenster, aber ein Zurückrudern Erdogans wird nicht möglich sein. Er würde fundamental sein Gesicht verlieren und bei den traditionell gläubigen Moslems keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen, auch bei den liberaleren Türken käme es als Schwäche rüber. Wenn er einlenkt, kann er gleich abdanken.

Ja, das sehe ich auch so.

Die westlichen Demokratien sollten Erdogan ganz deutlich die rote Karte zeigen...


RE: Proteste in der Türkei - Titus Feuerfuchs - 22.06.2013 22:26

(22.06.2013 15:31)kugelschreiber schrieb:  Ne, dann sind es Aufstände. bürgerkrieg ist KRIEG. Das heißt zwei oder mehr bewaffnete Gruppen/Organisationen usw. kämpfen gegeneinander.
Und nach Clausewitz beginnt der Krieg erst, wenn der angegriffene sich verteidigt.

Die Politikwissenschaft hat für derartige Konflikte, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Brisanz gewannen, den Terminus der sog. "Neuen Kriege" kreiert.

http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54556/veraenderte-konflikte


RE: Proteste in der Türkei - Titus Feuerfuchs - 22.06.2013 22:32

In Österreich waren es übrigens ausgerechnet die Grünen, die mit atypischen Aussagen das Thema betreffend aneckten.

http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/1419421/Gruener_ErdoganAnhaenger-haben-hier-nichts-verloren?from=suche.intern.portal

http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/1420792/Pilz-will-ErdoganFans-vor-Einbuergerung-genau-ansehen?from=suche.intern.portal


RE: Proteste in der Türkei - Suebe - 23.06.2013 12:00

(22.06.2013 21:23)hpd1311 schrieb:  
(19.06.2013 12:14)Uta schrieb:  Ich hoffe, ich lehne mich jetzt nicht zu weit aus dem Fenster, aber ein Zurückrudern Erdogans wird nicht möglich sein. Er würde fundamental sein Gesicht verlieren und bei den traditionell gläubigen Moslems keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen, auch bei den liberaleren Türken käme es als Schwäche rüber. Wenn er einlenkt, kann er gleich abdanken.

Ja, das sehe ich auch so.

Die westlichen Demokratien sollten Erdogan ganz deutlich die rote Karte zeigen...


Das verstehe ich jetzt nicht.
Ihn zum Rücktritt zwingen????


RE: Proteste in der Türkei - Maxdorfer - 23.06.2013 12:03

Meiner Ansicht nach handelt es sich dann um einen Krieg, wenn zwei eindeutige Kriegsparteien sich mit Waffen gegenüberstehen, wie es in Syrien beispielsweise der Fall ist.
Ansonsten handelt es sich um Straßenkämpfe wie zu Beginn der Weimarer Republik, vielleicht sogar um Anarchie, aber um keinen wirklichen Krieg.