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Ab wann gibt es "Deutschland"?
19.10.2016, 14:49
Beitrag: #14
RE: Ab wann gibt es "Deutschland"?
(18.10.2016 14:00)Dietrich schrieb:  Es ist bis heute umstritten, wann die Bevölkerung des Ostfrankenreichs unter den ottonisch-salischen Herrschern zu einer deutschen Identität gefunden hat, bzw. wann die in ihm vereinigten Völker, die zum Teil seit mehr als einem halben Jahrtausend bekannten Franken, Sachsen, Baiern und Alemannen, zusätzlich zu ihrem bisherigen Volksnamen umfassend "Deutsche" genannt wurden.

Ich bin der Meinung, dass es im ganzen Mittelalter (sagen wir mal bis ca. 1550) keine "deutsche" Identität gab - wie es auch keine "französische", "englische", "polnische" etc., und schon gar keine "italienische" gab. Das Mittelalter war durch das Lehnssystem geprägt, und sehr viele Lehnsherren und Klöster besassen Güter, Bauern und unterschiedlich austradierte Herrschatfs- und Gerichtsrechte in verschiedenen, z.T. weit auseinanderliegenden Regionen - z.B. Lehen in Bayern, Lohtringen, Champagne, Hessen, Böhmen und der Lombardei. Die Territorialbildung war ein Prozess, der das ganze Mittelalter hindurch andauerte. Und nicht nur Adel und Klerus mit ihrem weit verstreuten Besitz waren betroffen, auch die lehnsabhängigen Hörigen und Pächter. Ein Klosterbauer beispielsweise konnte in seiner grundherrlichen Abhängigkeit ganz anders geprägt sein als sein unmittelbarer Nachbar, als Untertan eines Grafen. Dass man bei solchen Verhältnissen so etwas wie eine "nationale" oder "deutsche" Identität entwickeln konnte, sehe ich nicht ein (das gilt wie gesagt auch für andere europäische "Identitäten"). Der mittelalterliche Feudalismus mit Lehnsherrschaft und Gefolgschaftspflicht liess eine über die kleinräumige Regionalität hinausgehende Identität ger nicht erst aufkommen.

Das ganze lässt sich beispielsweise an einem spätmittelalterlichen Pilgerführer nach Santiago de Compostela nachvollziehen. Die "Völker", welcher der Autor beschreibt, nehmen mit zunehmender Distanz vom Wohnort des Autors immer schrecklichere, bösartigere und exotischere Züge an. Schon die Region, welche an die Nachbarregion des Autors angrenzt, scheint beinahe ausschliesslich von Räubern, Rüpeln, Dieben, Betrügern und Ketzern bewohnt gewesen zu sein. Dabei handelt es - nach heutigen Begriffen - wie beim Autor selbst, meist um Franzosen. Für den Autor aber sind diese nicht etwa eine Art "Mitbürger" sondern völlig exotische Wesen. Die am weitesten entfernt Lebenden, die Basken, sind dann das Allerletzte und werden des Kannibalismus verdächtigt. Diese werden vom Autor aber auch nicht als "Spanier", "Kastilier" oder "Aragonesen" angesprochen, sondern erscheinen unter ihrem Lokalnamen.

(18.10.2016 14:00)Dietrich schrieb:  Es handelt sich dabei sowohl um einen politischen Prozess des Herauswachsens aus einem Teilkönigtum des fränkischen Gesamtreichs zu eigenem Staatsbewusstsein, als auch um eine sprachliche Spiegelung in der Verwendung des Wortes "deutsch" und seiner lateinischen Entsprechungen.


Auch hier bezweifle ich die Existenz eines wie auch immer gearteten "Staatsbewusstseins". Und was Otto der Grosse geschaffen hatte, war nicht Deutschland sondern das Heilige Römische Reich, was mehr war als ein blosses Königreich. Und dieses ist es, was aus dem ostfränkischen Reich hervorgegangen war. Das HRR umfasste nicht nur die "Stammesherzogtümer" (der Begriff ist heute hist. ebenfalls umstritten) Sachsen, Bayern und Schwaben sondern auch Friesland, Lothringen, Brabant, Tschechien, Ober- und Mittelitalien, Teile von Burgund und, was offenbar nicht so bekannt ist, bis zu den Anfängen des Spätmittelalters auch die Provence (Arelat).

Der Begriff "deutsch" taucht meines Wissens erstmals im Vertrag von Verdun oder in den nachfolgenden Verträgen zur Teilung des Frankenreichs auf. Und dort hatte "deutsch" in etwa die Bedeutung von "volkstümlicher Sprache", womit man zum Ausdruck bringen wollte, dass in Ostfranken eben noch die fränkische Volkssprache und nicht wie in West- und Mittelfranken die latinisierte Form (französisch) gesprochen wurde. Deshalb wurden auch Dolmetscher benötigt. Dass auch ein Bayer oder Friese dieses "deutsch" (fränkische Volkssprache) nicht verstand, ist eine andere Sache. Ob sie von den nachfolgenden Ottonen verstanden wurde, kann ich nicht beurteilen, denn die haben "sächsisch" gesprochen (hat jetzt nichts mit dem heutigen säschsisch zu tun Smile

Das HRR ist aus Ostfranken hervorgegangen (weil Otto mit Adelheid von Burgund die Witwe des letzten Träger des karolingischen Kaisertitels geheiratet hatte). Ansonsten gibt es, abgesehen von der Sprache, keinen Unterschied zur Entwicklung in Frankreich. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in Ostfranken die Karolinger resp. die entfernten Abkömmlinge der Karolinger etwas früher ausgestorben sind als in Westfranken. Deshalb war in Ostfranken der erste Nicht-Karolinger, der 911 zum König gewählt wurde, Konrad I von Franken (ist jetzt "Franken" ein Stammesherzogtum ? - in Westfranken waren es ja auch Franken Smile, während in Westfranken mit Hugo Capet erst 987 ein Nichtkarolinger gewählt wurde (Ausnahme: Odo von Paris).

Zusammengefasst behaupte ich: Eine überregionale deutsche Identität hat es im Mittelalter bis in die Neuzeit hinein nicht gegeben. Eine französische im Übrigen auch nicht.
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RE: Ab wann gibt es "Deutschland"? - Aguyar - 19.10.2016 14:49

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