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Ab wann gibt es "Deutschland"?
23.10.2016, 18:09
Beitrag: #39
RE: Ab wann gibt es "Deutschland"?
(21.10.2016 14:03)Dietrich schrieb:  Da gibt es zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich einen gewaltigen Unterschied.

Im HRR waren die Reichsfürsten Landesherren mit Landeshoheit. Die Landeshoheit gab dem Landesherrn die Gewalt über alle Einwohner, die auf seinem Territorium ansässig waren, über die Untertanen und Landstände. Diese Herrschaftsgewalt war grundsätzlich allumfassend und wurde nur beschränkt durch die Reichsgrundgesetze. Die Begriffe Landesherrschaft und Landeshoheit sollen also das Phänomen beschreiben, dass im römisch-deutschen Reich die Staatsgewalt zu einem guten Teil nicht vom König ausgeübt wurde, sondern von adeligen und geistlichen Reichsfürsten

Eine solche Macht übte der hohe Adel in Frankreich nie aus, ganz abgesehen davon, dass sich die französische Königsdynastie am Ende des Mittelalters aller französischen Territorien bemächtigt hatte. Sie waren nur noch Sekundogenituren, bzw. im Besitz von Nebenlinien des Königshauses.

Wenn wir vom Mittelalter sprechen (sagen wir bis zu etwa 1550) so ist das Bild von "Landesherren mit Gewalt über alle Einwohner" m. W. nach falsch.
Auch die Macht eines mittelalterlichen Landesherrn war nicht einheitlich und meistens äusserst kompliziert. Der grösste Teil eines mittelalterlichen Landesherrn bestand auch innerhalb "seines Territoriums" aus unterschiedlichen Herrschaftsrechten. Ïn der Regel bestand der grösste Teil seiner Herrschaft aus Lehen - und zwar aus Lehen unterschiedlicher Herkunft. Dabei waren Reichslehen, d.h. Lehen, welche vom HRR stammten, aber auch Lehen anderer Adligen. Und die Lehen resp. die damit verbundenen Rechten glichen sich kaum. Beispielsweise konnte der hier angenommene, hypothetische Landesherr die hohe Gerichtsbarkeit über ein Dorf ausüben, während er von einem benachbarten Gutshof lediglich bestimmte Abgaben zu erwarten hatte und vom Nachbardorf wiederum nur einige Regale verliehen (z.B. das Zollregal) bekommen hatte. Dazwischen lagen - "in seinem Territorium" - Klosterherrschaften, von denen er, wenn er Glück hatte, die Kastvogtei inne hatte, oder aber sie entzogen sich ganz seiner Herrschaft. Weiter konnten in seinem Territorium Städte liegen, sogenannte "Reichsstädte" oder "reichsunmittelbare Städte", welche in ihrem Territorium ebenfalls Lehnsgewalt ausübten und direkt dem Reich unterstellt waren. Weiter konnten in seinem Territorium auch Besitzungen von Freiherren liegen, deren Herrschaft sich oft sogar auf sogenannten "Eigen", d.h. Eigenbesitz, stütze, mit welchem sich nicht einmal dem Reich lehnspflichtig waren (desshalb Eigen und Lehen).

Im Verlauf des spätmittelalterlichen Landesausbaus waren die grossen Terrfitorialherren natürlich bestrebt, die fehlenden Rechte zu erwerben (Heirat, Erbfall, Kauf) - etwa, indem ein verarmter Kleinadliger seinen Eigenbesitz an den Territorialherrn verkaufte und ihn als Lehen von diesem zurück erhielt - um eine lückenlose Territorialherrschaft zu Erreichen. Dies gelang aber meist erst nach dem Mittelalter, als der Absolutismus die Lehnsherrschaft ablöste.

Die mittelalterlichen Machtverhältnisse waren aufgrund der Lehnsherrschaft viel komplizierter. Zudem waren Lehen keine umfassenden Herrschaftsrechte. Abgaben, Gerichtsbarkeit, Regalien etc. konnten auch einzeln verliehen werden und sogar weiter verliehen werden - sogenannte Afterlehen, was zu Aftervasallen führte (ja ich weiss, der Begriff kann zweideutig aufgefasst werden Big Grin). Hinzu kam, dass der Lehensinhaber in der Regel Lehen verschiedener Lehensherren inne hatte. Da mit den meisten Lehen auch gewisse Gefolgschaftspflichten verbunden waren, konnte das für den Lehnsträger rasch peinlich werden, wenn er Lehen von zwei miteinander verfeindeten Lehensherrn inne hatte (wem musste er jetzt die Treue halten ?).

Für den Lehnsherrn ("Territorialherr"), welcher die Lehen verlieh, war die Situation auch nicht überschaubarer. Die Lehen waren erblich, d.h. der Lehnsherr konnte den Besitz erst wieder neu verleihen, wenn die Familie des Lehensinhabers in männlicher Linie ausgestorben war. Oft war es zudem möglich, dass der Lehnsinhaber das Lehen verkaufen konnte, so dass der usprüngliche Lehnsinhaber plötzlich zu einem anderen Vasallen kam - der ihm möglicherweise gar nicht genehm war. Wenn jetzt das Lehen noch an einen Feind des Lehnsherrn verkauft oder verpfänder wurde ...

Die Lehnsherrschaft, die sich über einen grossen Teil des mittelalterlichen Europas verbreitet hatte (inkl. einiger slawischer Regionen) war im Wesentlichen eine Erfindung des Frankenreiches. Und gerade deshalb waren sich die Verhältnisse im HRR und in Frankreich am Ähnlichsten. Die Herrschaft eines Herzogs von Bayern war genauso Stückwerk und kompliziert wie die Herrschaft eines Grafen von Champagne. Und der französische König war genauso wenig ein unumschränkter Herrscher über sein Königreich wie es der deutsche König oder Kaiser war. Der ganze Hundertjährige Krieg war letztendlich mehr oder weniger "nur" eine Auseinandersetzung um die Frage, wer als rechtmässiger Lehnsherr über Aquitanien anzusehen sei.

Den Unterschied zwischen HRR und Frankreich, da bin ich mit Dir einig, liegt darin, dass die zahlreichen Nebenlinien des französischen Königshauses im Verlauf des Spätmittelalters die Macht in den verschiedenen Herrschaften übernehmen konnten. Das war aber gewissermassen Zufall. Die französichen Nebenlinien der Capetinger (auch die Valois und Bourbonen sind Nebenlinien der Capetinger) hatten das Glück, dass die französischen Grossadligen nach und nach ausstarben und die Lehen an das Königreich zurückfielen oder, noch häufiger, dass beim Aussterben ein Vertreter einer capetingischen Nebenlinie gerade mit der hinterbliebenen Erbtochter verheiratet war. Das hatten zwar auch die spätmittelalterlichen Habsburger-Kaiser versucht, doch leider starben weder die Welfen, Wittelsbacher, Hessen, Wettiner oder Mecklenburger aus. Dafür die Kastilier/Aragonesen, weshalb die Habsburger nicht über Deutschland als Territorialherren herrschen konnten, dafür über Spanien (etwas vereinfacht und plakativ ausgedrückt).
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RE: Ab wann gibt es "Deutschland"? - Aguyar - 23.10.2016 18:09

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