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Warschauer Aufstand 1944 - liess Stalin die Polen verbluten?
02.08.2014, 05:54
Beitrag: #2
RE: Warschauer Aufstand 1944 - liess Stalin die Polen verbluten?
Gut, dass Du den Warschauer Aufstand von 1944 im Forum thematisierst. Das Thema ist nämlich sehr komplex und Du kannst davon ausgehen, dass die damaligen Ereignisse bis heute noch nicht hundertprozentig aufgeklärt sind.

Du hast natürlich Recht, dass man Stalins Verhalten nur im Sinne der von ihm beabsichtigten Nachkriegsordnung sehen kann, also auch als Beginn des „Kalten Krieges“. Wobei man streiten kann, inwieweit die US-Amerikaner bei der Besetzung Siziliens planten, dauerhaft in Europa stationiert zu sein. Aber das kann man in einem anderen Thread diskutieren. Fest steht, Stalin war gar nicht daran interessiert, dass der Warschauer Aufstand unter der Leitung der AK erfolgreich endet. Denn mit einem siegreichen Ende des Aufstands hätte die AK und mit ihr die Exilregierung ihre Legitimität als Interessenvertreter des polnischen Volkes bestätigt bekommen, um dann im Nachkriegspolen die Regierung zu übernehmen. Das lag jedoch nicht im Interesse Stalins. Spekulativ ist natürlich, ob sich in Polen nach Kriegsende eine nichtkommunistische Regierung behauptet hätte oder ob es einen kommunistischen Putsch, wie am 24. Februar 1948 in der Tschechoslowakei gegeben hätte.

Die AK (Armia Krajowa – Armee im Lande, auch Heimatarmee) hatte sich bereits im Februar 1942 gebildet, sie ist aus den Verbänden von General Rowecki und aus Partisaneneinheiten hervorgegangen, die seit 1941 im Untergrund kämpften. 1943 hatte die AK bereits 300.000 Mann Stärke und stellte damit die wichtigste Kraft im polnischen Widerstand dar. Neben diesem Widerstand existierte in Polen auch der noch zahlenmäßig geringere, kommunistische Widerstand. Ebenfalls Anfang 1942 wurde die Polnische Arbeiterpartei PPR (neu) gegründet und die von ihr geleitete GL (Gwardia Ludowa – Volksgarde), die anfänglich mit der Exilregierung und der AK zusammenarbeitete und als Bindeglied zwischen der Sowjetunion und der Exilregierung agierte.

Als Schicksalsjahr des polnischen Widerstands muss man das Jahr 1943 sehen, auch unter dem Gesichtspunkt des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto, der am 19. April begann und der häufig mit dem am 1. August 1944 begonnen Warschauer Aufstand verwechselt wird. Beide Aufstände zählen meines Erachtens zu den bedeutendsten Ereignissen des Widerstands gegen die NS-Herrschaft. Ein ebenso tragischer Tag des Jahres 1943 war der 13. April, weil an diesem Tag der deutsche Rundfunk verkündete, dass im Wald bei Katyn Tausende Leichen von der Roten Armee bzw. dem NKWD ermordeten polnischen Offizieren gefunden wurden.

Im Gegenzug verkündete Moskau, dass die Offiziere von den Deutschen umgebracht worden sind. Die polnische Exilregierung zweifelte jedoch an dieser Darstellung und forderte Stalin auf, Untersuchungen des Internationalen Roten Kreuzes zuzulassen. Stalin beschimpfte daraufhin die polnische Exilregierung als Verbündete der Deutschen (!) und brach die diplomatische Beziehung zu ihr ab. Da im April/Mai 1943 der Aufstand des Warschauer Ghettos niedergeschlagen wurde und der polnische Widerstand zerstritten war, ob nun Katyn ein Verbrechen der Deutschen oder Russen war, fühlten sich die Polen erneut zwischen den Rädern des Hitler-Stalin-Paktes gepresst. Diese Situation verschlimmerte sich noch, als am 4. Juli 1943 der Präsident der Exilregierung, General Wladyslaw Sikorski, bei einem Flugzeugabsturz vor Gibraltar ums Leben kam.

Stalin nutzte diese Situation sofort, einerseits gelang es ihm im August 1943 mit Boleslaw Bierut (!) einen Vertrauensmann in den Warschauer Untergrund zu schleusen, andererseits konnte im November Wladyslaw Gomulka (!) die Leitung der PRR und vor allem ihres militärischen Armes GL übernehmen. Beiden gelang es die Linksparteien bzw. Linkskräfte Polens an sich zu binden, noch im November 1943 wurde ein Landesnationalrat gebildet, der ab 1. Januar 1944 dann tatsächlich als Gegenparlament der Exilregierung in London agierte. Ebenfalls per 1. Januar 1944 wurde die GL zur AL (Armia Ludowa – Volksarmee) unter General Michal Rola-Zymierski umgebildet. Im Gegenzug schwand aber die Unterstützung der Alliierten für die Exilregierung seit dem Tode des Generals Sikorski, dessen Nachfolger im Amt des Staatspräsidenten, Stanislaw Mikolajczyk, wurde eher in London geduldet als unterstützt. Spätestens am 1. Januar 1944 bestanden zwei polnische, miteinander konkurrierende, vielleicht sogar verfeindete Widerstandszentren.

Eine Ursache dafür war, die in der Teheran-Konferenz vom 28. November bis 1. Dezember 1943 beschlossene Westverschiebung Polens auf Kosten Deutschlands. Nutznießer dieser Westverschiebung war natürlich die Sowjetunion, die ihre Gebietsgewinne infolge des Hitler-Stalin-Paktes behalten konnte. Mikolayczyk versuchte schließlich am 9. Januar 1944 einen Rat der nationalen Einheit zu bilden, der bereits nur in dem „Teheran-Polen“ alle nichtkommunistischen Kräfte bündeln soll. Diese Aktion misslang, auch weil Churchill Mikolayczyk aufforderte, die bereits in Polen entstehenden sowjetischen Militärverwaltungen als exekutive Organe Polens anzuerkennen. Dies ist besonders tragisch, wenn nicht sogar perfid, weil zu gleicher Zeit polnische Exilsoldaten unter großen Opfern bei Monte Cassino für die Alliierten kämpften.

Nach dem die sowjetische Armee den Bug überschritten hatte, bildete sich am 22. Juli 1944 in Chelmo ein Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung, das einige Tage später nach Lublin verlegt wurde und deswegen als „Lubliner Komitee“ bekannt ist. Der 22. Juli 1944 wurde nach Kriegsende als Gründungsdatum der Volksrepublik Polen festgelegt und der 22. Juli war der wichtigste kommunistische Feiertag im Nachkriegspolen. Die Sowjetunion anerkannte das Lubliner Komitee am 27. Juli 1944 und entsandte einen Botschafter. Die Exilregierung protestierte gegen die sowjetische Vorgehensweise, aber sie bekam von den Alliierten keine Unterstützung. Am 30. Juli 1944 verhandelte Mikolayczyk in Moskau mit der sowjetischen Führung, aber er erreichte nichts mehr.

Mehr oder weniger unabhängig von der Exilregierung entschloss sich die AK unter Führung von General Tadeusz Bor-Komorowski zum bewaffneten Aufstand gegen die Deutschen, der am 1. August 1944 17.00 Uhr in Warschau begann. Die AK gehörten zwar 50.000 Mann an, am Anfang kämpften aber nur 14.000, später schließlich 36.000 schlecht ausgerüstete Soldaten gegen die Deutschen, die erst am 4. August mit Gegenmaßnahmen begannen. Die sowjetische Armee stand zu diesem Zeitpunkt an der Weichsel, Marschall Rokossowski, im Übrigen ein gebürtiger Pole, der nach den stalinistischen „Säuberungen“ in der Roten Armee im GULAG ein paar Jahre verbrachte und Ende 1941 reaktiviert wurde, besetzte zwar am 14. September 1944 die Vorstadt Praga, aber in den Kämpfen in Warschau mischte er sich nicht ein. Ob die AK tatsächlich auf die Hilfe der Sowjets hoffte, sei dahingestellt, auf jeden Fall ersehnte sich die Warschauer Bevölkerung die Unterstützung Rokossowskis, weil sie zu diesem Zeitpunkt mit Recht die Sowjets als kleineres Übel ansahen. Dass Stalin seinem Marschall verbot, in die Warschauer Kämpfe einzugreifen, kann nur als Polen verachtender Verrat betrachtet werden. Außerdem verweigerte Stalin den Westmächten die Nutzung der Flughäfen und somit die Lieferung von Nahrung, Waffen und anderen Gütern. Deshalb brach der Aufstand am 2. Oktober 1944 zusammen, genau am 5. Jahrestag der polnischen Kapitulation von 1939.

Warschau war völlig zerstört. Die Aufständischen hatten 16.000 Gefallene und 6.000 Verwundete zu beklagen, die Deutschen verzeichneten 2.000 Gefallene und 9.000 Verwundete als Verluste. 70.000 Warschauer wurden ins KZ verschleppt, insgesamt sollen etwa 160 bis 170.000 Zivilisten als Opfer zu beklagen sein. Mikolayczyk trat nach der Niederlage als Staatspräsident der polnischen Exilregierung zurück, sein Nachfolger blieb bedeutungslos, da die USA und Großbritannien kein Interesse mehr zeigten, Polen zu helfen. Das bedeutet, Roosevelt und Churchill haben den Zugriff Stalins auf Osteuropa akzeptiert. Am 17. Januar 1945 endete schließlich die deutsche Besetzung Warschaus. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Beauftragte für die Niederschlagung des Aufstands, Erich von dem Bach-Zelewski, bereits das Ritterkreuz erhalten. Bach-Zelewski, der im Übrigen im November 1914 der jüngste Kriegsfreiwillige war, zeigte sich gegenüber den Anklägern im Nürnberger Prozess von 1945 kooperativ und wurde deshalb nicht an die UdSSR oder VR Polen ausgeliefert. Stattdessen wurde er 1949 zu zehn Jahre Arbeitslager verurteilt, die jedoch nicht vollstreckt wurden. 1961/62 wurde er wegen seiner Rolle bei der Ermordung innerpolitischer Gegner (Röhm-Putsch) im Jahr 1934 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, in der er 1972 in München starb.

So das war’s erst einmal. Werde mal morgen oder übermorgen mal bei Churchill nachlesen

"Geschichte erleuchtet den Verstand, veredelt das Herz, spornt den Willen und lenkt ihn auf höhere Ziele." Cicero
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